Feuerregen (Billy Bob Holland) (German Edition)
bewusst, dass er zum ersten Mal den Kosenamen benutzt hatte, den Ronnie ihr gegeben hatte.
»Wo willst du hin?«, sagte sie ungläubig.
Er ging ins Schlafzimmer, kehrte mit seinen Stiefeln zurück, setzte sich auf die Couch und zog einen nach dem anderen an. Seine Haut fühlte sich wie taub an, und er konnte sich nicht mehr an die Frage erinnern, die sie ihm gerade gestellt hatte.
»Ich bin noch nie seekrank gewesen. Wie soll man sich denn dabei fühlen?«, sagte er.
Er fuhr mit Esmeralda die Straße zurück und an der Tankstelle mit dem Gemischtwarenladen vorbei, an den Neonröhren um die Fenster und den Lampen an den Zapfsäulen, die hinter Regenschlieren in der Dämmerung leuchteten. Auf einem breiten Rastplatz sahen sie die drei schräg geparkten Autos aus dem Country Club, die Silhouetten von zehn, zwölf Menschen, die sich am anderen Ende im Kreis zusammenscharten, die Vögel, die laut kreischend aus einem Baum auf dem Feld aufschwirrten.
Lucas schaltete herunter, setzte den Blinker und steuerte den Pickup über den Mittelstreifen auf den Parkplatz. Blitze zuckten zwischen den Wolken über ihnen und flackerten weißlich im Gras. Einen Moment lang prägte sich Lucas ein Bild ein, das später in seiner Erinnerung bezeichnender für den Vorfall sein sollte als das eigentliche Geschehen. Ein dünner, betrunkener blonder Junge mit schmalen Armen war allein hinaus ins Gelände gelaufen und hatte ein loses Brett von einer eingefallenen Hütte abgerissen. Das Brett war an einem Ende mit rostigen Nägeln gespickt, und der Junge, dessen Gesicht ölig und vom Schnaps erhitzt war und aus dessen dumpfem Blick pure Feindseligkeit sprach, drosch damit durch die Luft.
Lucas hielt neben Chugs neuem lavendelfarbenem Cadillac, den er sich mit Erlaubnis seines Vaters von dessen Autohandlung ausleihen durfte, und stellte den Motor ab.
»Bleib hier, Essie«, sagte er.
»Ich komme mit.«
»Ich möchte, dass du zur Tankstelle gehst und Billy Bob Holland anrufst, falls die Sache hier schief geht.«
»Was hast du vor?«
Er horchte auf die Geräusche des abkühlenden Motors, musterte im Rückspiegel den verchromten Kühlergrill und den lavendelfarbenen Lack von Chugs Cadillac, schaute zu dem Kreis, der sich um Ronnie Cruise gebildet hatte, und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, sagte er, stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu, als könnte er seine Angst im Führerhaus einsperren.
Als er auf die Gruppe zuging, hörte er, wie Esmeralda die Tür öffnete, auf den Kies hinabstieg und ihm folgte.
Diese Frau hört einfach nicht zu, dachte er.
Chug Rollins, in einem blauen Seidenhemd, das nass an seiner Haut klebte, eine weiße Golfkappe auf dem Kopf, stand jetzt mit Ronnie mitten im Kreis. Seine weiße, sackartige Hose war knapp unter dem Nabel mit einem schwarzen Ledergürtel zusammengeschnürt. Sein Rücken war so breit wie ein quer liegender Axtstiel, die Oberarme wirkten dick und prall wie unter Druck stehende Feuerwehrschläuche.
Lucas hatte Chug und seine Freunde schon mal in Aktion erlebt. Sie nahmen sich jemanden vor, den sie nicht leiden konnten, neckten und verhöhnten ihn so lange, bis er sich zu einer Unbedachtheit hinreißen ließ, ein Verhalten an den Tag legte, das ihn disqualifizierte, mit dem er bewies, dass er anders war als sie. Sobald für sie feststand, dass er keine Gnade verdiente, nahmen sie ihn auseinander.
Ob Homosexuelle, Mitglieder mexikanischer oder schwarzer Straßengangs, ein Dealer von außerhalb, der in die hiesige Szene einsteigen wollte, oder Penner, die sich von den Bahngleisen ins East End verirrt hatten, mit allen sprangen sie auf die gleiche Weise um. Die ließen sich kein zweites Mal mehr blicken.
Aber Ronnie Cross war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er kämmte sich die Haare, während sie ihn beleidigten, nahm beide Hände zu Hilfe, wirkte gefasst und hatte die Wangen eingesogen. Als er fertig war und den Kamm weggesteckt hatte, beugte er sich vor und spuckte zehn Zentimeter neben Chugs Schuh auf den Boden.
»Wollen Schmalztollen etwa auf diese Weise Eindruck schinden? Indem ihr den Leuten zeigt, dass ihr spucken könnt?«, sagte Chug.
»Ich seh hier keine Schmalztollen«, sagte Ronnie und blickte geduldig zum Himmel auf. »Sieh mal, eine Schmalztolle ist ein Typ, der beim Mob ist. Wenn du mich nun aber als ›Schmalzkopf‹ bezeichnest, als ›Kanake‹ also, weiß ich ja, von wem es kommt, was wiederum heißt, dass ich mir keinen Kopf drüber machen muss. Sieh mal,
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