Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
lesen. Sonst hätte er vielleicht einen Hinweis finden können, was in den letzten Jahren dieser Welt passiert war. In einer Chronik oder etwas Ähnlichem.
Im ersten Stock fand Gerald einen Lesesaal von gigantischen Ausmaßen unter einer riesigen Kuppel. Früher, als hier noch alles hell und lebendig gewesen war, musste der Lesesaal ein magisch schöner Ort gewesen sein. Gerald konnte sich vorstellen, wie das Sonnenlicht hoch oben in der Kuppel geleuchtet und die Lesenden sanft beschienen hatte. Jetzt war die Kuppel schwarz, ebenso wie die Bücher, die aufgeschlagen auf den Tischen lagen. Gerald musste unsichtbar lachen. Schwarze Buchstaben auf schwarzen Seiten – durch Lesen konnte er hier nicht klüger werden!
Seine Zeit war ohnehin fast abgelaufen, denn er merkte, dass sich seine Kräfte dem Ende neigten. Darum drehte er den Lesetischen den Rücken zu und wollte den Saal verlassen, als er etwas entdeckte, das ihn so sehr erschreckte, dass seine Unangreifbarkeit ins Wanken geriet. Er schloss seine nicht vorhandenen Augen, konzentrierte sich und stabilisierte seinen Zustand. Jetzt nicht die Kontrolle verlieren, nicht nachlassen, nicht der Versuchung nachgeben, auf echten Beinen davonrennen zu wollen …
Als er glaubte, sich wieder im Griff zu haben, schärfte Gerald seinen Blick und lenkte die Wahrnehmung zurück zu dem Auslöser des Schreckens: Auf dem Boden zusammengerollt lag eine menschliche Gestalt und schlief. Es war eine abgemagerte Person, zartgliedrig und unschuldig aussehend. Der Brustkorb, dessen Rippen hervorstanden, hob und senkte sich langsam. Am Rücken hatte das Geschöpf Flügel, große Flügel, die jedoch am bloßen Körper anlagen und diesen schützten. Es war schwer zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, vielleicht war es keins von beidem.
Gerald spürte, dass er sich beeilen musste. Er konnte den Zustand der Unangreifbarkeit kaum noch aufrechterhalten, musste aber noch den weiten Weg bis zur Tür zurücklegen, die ihn in Marias Spiegelwelt führen würde. Darum wandte er sich ab, langsam und vorsichtig, um das Wesen, das dort schlief, nicht aufzuwecken. Er ahnte nämlich, dass es trotz seines harmlosen Aussehens gefährlich war. Nur Dämonen konnten in einer toten Welt überleben. So wie der Engelsdämon, der für Viego Vandalez die Erinnerung an die Lilienpapiere aus der toten Welt geholt hatte. Um einen solchen Dämon in seiner natürlichen Gestalt musste es sich hier handeln. Das war schlimm. Denn in allen Welten gab es keine unheilvolleren Wesen als diese.
Selten war es für Gerald so knapp geworden. Er musste all seine Gedankenkräfte zusammennehmen, um die letzten Schritte unversehrt zu überstehen. Mehr stolpernd als laufend stürzte er sich durch die geöffnete Tür, hinter der Grohann stand und auf ihn wartete. Kaum hatte Gerald die Schwelle zum Treppenhaus in Marias Spiegelwelt überschritten, wurde er schlagartig wieder sichtbar und die Beine sackten unter ihm weg. Hätte ihn nicht Grohann am Arm gepackt und festgehalten, wäre er gestürzt. So konnte er sich gerade noch abfangen und ging in die Knie. Vornüber gebeugt keuchte er und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er nach Stunden aus der toten Welt zurückkehrte.
„Gerald!“, rief Lisandra, die mit Maria, Thuna und Grohann vor der Tür gewartet hatte. „Wo warst du? Warum kommst du so spät? Wir sind fast durchgedreht hier!“
Die Worte drangen nur langsam zu Gerald durch. Zeit, das war etwas Relatives in der toten Welt. Er wusste nie, wie viel Zeit er dort zubrachte. Man spürte dort kein Vergehen von Zeit und natürlich gab es auch keine funktionierenden Uhren. Gerald spürte nur, wann seine Kräfte nachließen und er zurückkehren musste in Marias Spiegelwelt. In der Regel waren dann zwei bis drei Stunden vergangen. Heute nicht.
„Sechs Stunden!“, hörte er Maria rufen. „Oh, Gerald wir sind so froh, dass du noch lebst !“
Allmählich ließ die Übelkeit nach. Gerald hob den Kopf und sah die drei Mädchen an, die rund um die Tür im Flur kauerten, mehr oder weniger aufgelöst. Maria hatte verweinte Augen und fast blutleere Lippen. Lisandras wilde Locken waren mehr als zerzaust und ihre Wangen glühten. Thuna wirkte am ruhigsten. Doch ihre Augen waren weit aufgerissen und das blaugrüne Leuchten, das in letzter Zeit ihr langes, glattes Haar umspielte, flackerte und zitterte unruhig.
„Wir haben uns große Sorgen gemacht“, sagte sie. „Geht es dir
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