Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
fest“, sagte sie und kletterte langsam an ihrem eigenen Faden in die Höhe.
Was Wolfgang und Geraldine an jenem Tag dazu bewegt hatte, der Spinnenfrau Alabastra zu vertrauen, darüber würden die beiden ihr Leben lang unterschiedlicher Meinung sein. Geraldine würde behaupten, dass sie von Alabastra hypnotisiert worden waren, während Wolfgang (oder Gangwolf) darauf bestand, dass er Alabastras Güte schon damals deutlich hatte spüren können.
Wie dem auch gewesen war, sie hielten sich nun gut fest und ließen es zu, dass sie vom Boden abhoben und an Fäden hängend von der Spinnenfrau durch den Nebel des Waldes getragen wurden, bis sie deren Behausung erreichten, einen leuchtenden Kokon, hoch oben in den Wipfeln der Bäume.
Hätten sie gewusst, wie gefährlich Spinnenfrauen im Allgemeinen waren, hätten sie sich bestimmt zu Tode gefürchtet. Doch sie waren ahnungslos und daher mehr als glücklich, als sie in die Behaglichkeit der Spinnen-Behausung eintauchten und dort mit allem versorgt wurden, was sie brauchten.
Aus den Ferien, die Wolfgang in der fremden Welt verbringen wollte, wurden Monate und später Jahre. Er und Geraldine blieben bei Alabastra, der Spinnenfrau, und erlernten von ihr die fremde Sprache, die in Amuylett gesprochen wurde. Sie erfuhren auch alles Wichtige, was es über diese Welt zu wissen gab. Zum Beispiel, dass Amuylett ein Reich war, das sich fast über den gesamten Erdball erstreckte. Darum nannte man nicht nur das Reich, sondern auch die ganze Welt Amuylett.
Heute, sechsunddreißig Jahre später, dachte Ritter Gangwolf noch oft an jenen Tag zurück, der ihn und seine Schwester hierhergeführt hatte. Er hatte die Erinnerung daran immer geliebt und den längst vergangenen Augusttag gepriesen als den größten Glückstag seines Lebens. So lange, bis er Geraldine verlor. Der Abend, an dem sie starb, ließ alles in einem anderen Licht erscheinen. Die einst so frohe Erinnerung brannte jetzt wie Feuer in Ritter Gangwolfs Gedächtnis. Gleich einer Wunde, die nicht mehr heilen wollte, trug er sie Tag und Nacht mit sich herum. Keine Tür konnte ihn diesmal retten vor dem Schmerz, den er empfand.
Kapitel 2: Der Saal der toten Bücher
Er war wieder in der toten Welt. Gerald musste sich jedes Mal überwinden, diesen Ort zu betreten, doch sobald er es geschafft hatte, verdrängte seine Neugier die schlechten Gefühle und trieb ihn voran. Weder Sonne noch Mond leuchteten am grauen Himmel, nichts bewegte oder veränderte sich in der toten Welt. Das Einzige, was die stille, leere Luft durchzog, war das Seufzen und Wehklagen einer verlorenen Seele.
Es war kein hörbares Geräusch, doch es bedrängte Gerald in seinem unkörperlichen Zustand. Er spürte die Traurigkeit der verlorenen Seele wie eine Melodie in einer Welt ohne Musik. Dabei wusste Gerald nicht zu sagen, ob ihn diese Musik marterte oder mit Mut und Hoffnung erfüllte. Denn der Klang dieser unhörbaren Stimme gehörte seiner Tante Geraldine, die vor achtzehn Jahren an diesem Ort zugrunde gegangen war. Ihre Seele hatte überlebt. Doch was für ein Leben war das hier?
Es war nicht Geralds Aufgabe, sich darum zu kümmern, das hatte ihm Grohann immer und immer wieder eingeschärft. Im Moment konnte niemand etwas für die Verlorene tun. Später einmal, wenn Gerald die Wunde der toten Welt gefunden und verschlossen hätte und das Leben in diese Welt zurückgekehrt wäre, dann könnte der Verlorenen vielleicht geholfen werden. Vorher nicht.
Vorher, das war jetzt. Gerald bewegte sich körperlos durch eine Stadt, deren Schwärze er sich kaum erklären konnte. Als hätte ein Brand gewütet, ohne etwas zu verbrennen, waren Mauern, Straßen, Laternen und sogar Bäume schwarz wie die Nacht. Schattengleich und doch solide verwirrten sie Gerald in ihrer Andersartigkeit. Ein Rosenstrauch, der in voller Blüte stand, zierte die Mitte eines Platzes. Der Strauch und die Rosen waren ebenso wie alles andere pechschwarz. Mit seiner unsichtbaren Hand fuhr Gerald durch das blühende, doch tote Gewächs, und spürte, dass es zerbrechen und sofort zu Staub verfallen würde, wenn es von einer echten Hand berührt werden würde.
Was aber nicht passieren konnte, da jedes körperliche Wesen, das diese Welt zu betreten versuchte, sofort dahingerafft wurde. So wie die arme Geraldine, die man gegen ihren Willen in ihr Verderben gestoßen hatte. Gerald allein war es möglich, die tote Welt zu erforschen, aufgrund seines Talents. Er wurde „unsichtbar bis zur
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