Feuerscherben
Solch eine persönliche Bemerkung wäre ebenso unangemessen gewesen wie der Hinweis gegenüber der Königin von England, sie solle sich eine neue Frisur zulegen. Claire sah zu, wie ihre Mutter näher kam. Das Schweigen wurde langsam peinlich. Meine Güte, ist das schrecklich, dachte sie. Ich muss unbedingt etwas sagen.
Verzweifelt stieß sie das Erste hervor, was ihr in den Sinn kam. »Bainbridge wird um elf Uhr Marmeladentörtchen servieren.«
»Tatsächlich? Wie … wie köstlich!« Evelyn war sichtlich schockiert, und das war kein Wunder. Nach sieben Jahren hatte sie gewiss erwartet, ihre Tochter würde ein interessanteres Thema anschneiden als das Essen zum Elf-Uhr-Kaffee. Sie versuchte, die Unterhaltung auf ein unverbindliches Thema zu lenken. »Hattest du eine gute Reise von Boston? Ich bin sehr froh, dass du die Zeit für einen kurzen Besuch erübrigen konntest. Du siehst gut aus, Claire.«
»Danke, du auch. Schön und elegant wie immer.« Evelyn lächelte unmerklich. »Das war sehr nett.« Die Reise, die Gesundheit und das äußere Erscheinungsbild hätten wir also hinter uns, dachte Claire. Als Nächstes wäre eigentlich das Wetter dran. Meine Güte, wir werden uns doch nicht über das Klima unterhalten? Verzweifelt blickte sie zur Tür und hoffte wider besseres Wissen, dass Bainbridge mit dem Imbiss hereinkommen würde. Doch sie hatte kein Glück. Sie warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu und stellte fest, dass Evelyn ihr Spitzentaschentuch zerknüllte. Verblüfft überlegte sie, ob die Mutter vielleicht aus Nervosität schwieg und nicht, weil sie das Verhalten der Tochter missbilligte. War es möglich, dass die stets so huldvolle Evelyn Angst hatte?
»Mutter?«, fragte sie und trat zögernd einen Schritt vor.
»Geht es dir gut?«
»Selbstverständlich geht es mir gut«, antwortete Evelyn kühl, beinahe arrogant. Sie wandte sich ab, doch Claire sah, dass ihre Schultern zitterten.
»Mutter?« Sie wagte sich einen weiteren Schritt vor. »Was hast du? Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
»Merkst du nicht, was los ist?«, stieß Evelyn hervor, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme klang gleichzeitig wütend und verächtlich. »Ich bin hilflos, absolut hilflos. Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und überlegt, worüber wir uns unterhalten könnten. Ich wollte unbedingt das Richtige sagen.« Ein Stück Spitze von ihrem Taschentuch fiel zu Boden. »Meine Güte, weshalb kann ich dich nicht einfach in die Arme nehmen und mich an deiner Schulter ausheulen? Und mich erst später darüber ärgern, falls ich mich dabei lächerlich mache?«
»Ich hätte nichts dagegen«, antwortete Claire, und ihr Herz begann, wie wild zu schlagen. Sie schloss den Abstand zwischen Evelyn und sich und berührte vorsichtig den Ellbogen ihrer Mutter. »Mom? Ich könnte die Umarmung, von der du gesprochen hast, jetzt gut brauchen.«
»So, könntest du?« Evelyn drehte sich um. Ihre Lippen zitterten, und ihre leuchtend blauen Augen glänzten vor Tränen. »Meine Güte, Claire, ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen. Ich kann einfach nicht glauben, dass du hier bist, im selben Zimmer wie ich. Es ist so wunderbar.« Sie breitete die Arme aus und ließ sie wieder sinken. Noch gelang es ihr nicht, die lebenslange Beherrschung abzustreifen und ihre Hemmungen über Bord zu werfen.
Mutter hat furchtbare Angst, stellte Claire fest. Sie scheut sich, ihrer Tochter eine Umarmung aufzudrängen, die vielleicht nicht wirklich erwünscht sein könnte. »O Mom«, sagte sie, beugte sich vor und legte ihr Gesicht an Evelyns weiche Wange. »Ich bin so froh, wieder zu Hause zu sein.«
Sie roch den vertrauten Duft des »Worth«-Parfüms. Tränen traten ihr in die Augen. Sie flossen über und tropften ihr von der Nasenspitze. Claire schniefte und musste plötzlich lachen.
Das ist typisch, dachte sie. Wenn Evelyn weint, glänzen ihre schönen Augen noch stärker. Wenn ich heule, fängt meine Nase an zu laufen.
»Du hast mir so gefehlt, Mom«, flüsterte sie.
»Für mich war die Zeit ebenfalls ein Albtraum. Aber jetzt bist du ja wieder da.« Evelyn zog Claire enger an sich. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich es war, all diesen Betrügerinnen zu begegnen. Jedes Mal ist man entschlossen, sich keine falschen Hoffnungen zu machen, weil es mit ziemlicher Sicherheit doch Schwindlerinnen sind, und hofft dann trotzdem.«
»Das tut mir aufrichtig leid, Mom«, sagte Claire und merkte, wie banal ihre Worte klangen. »Wirklich. Ich
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