Feuerschwingen
Was meinte der Prinz damit?
»Keine Sorge, es gefällt mir, wie ihr Menschen immer wieder Risiken eingeht. Nur so kann sich eine Gesellschaft weiterentwickeln. Natürlich nicht unbedingt zu ihrem Besten. Aber wo bliebe dann auch der Spaß für uns?«
Ohne dass er eine Bewegung wahrgenommen hätte, stand Noth plötzlich dicht vor ihm. Den direkten Blickkontakt vermeidend, widersprach er: »Ich bin längst kein Mensch mehr.«
Nun lachte der Prinz, und es klang ehrlich amüsiert. »Wie alt bist du jetzt, sechzig, siebzig Jahre? Mit Glück hast du drei oder gar vier Jahrhunderte im Dienst deines Herrn vor dir.« Freundschaftlich legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Glaub mir, es ist noch sehr viel Menschliches in dir. Das kann auch ein Vorteil sein.« Mit dieser kryptischen Bemerkung verschwand er. Einfach so. Ohne einen Hinweis darauf hinterlassen zu haben, dass er jemals hier gewesen war.
Ihn schauderte es. Wohl wissend, dass er nicht weitersuchen konnte, ohne möglicherweise dabei beobachtet zu werden, zog der Dämon einen dicken Band aus dem Regal, trug ihn zum Tisch hinüber und blätterte darin. Es dauerte nicht lange, bis er die Stelle gefunden hatte, die den Zauber für sein Amulett enthielt. Natürlich fand er nirgends einen Hinweis, wie man ihn anders als mit intakten Seelen verstärken konnte. Hätte es eine Alternative gegeben, Durival hätte sie angewandt. Aber Seelen waren in der Unterwelt ein geschätztes Gut, das man nicht so ohne Weiteres hergab.
Während er das Buch ins Regal zurückstellte, murmelte er etwas, das wie Enttäuschung klingen sollte, und dachte, wie schade es war, keine Lösung für dieses Problem gefunden zu haben. Dabei hoffte er, den heimlichen Beobachter, dessen Augen sich regelrecht in seinen Rücken zu bohren schienen, getäuscht zu haben.
Kurz bevor er den Ausgang erreichte, ließ der Druck endlich nach. Erleichtert darüber, nicht mehr verfolgt zu werden, atmete er auf. Am Tor fragte er den Wächter so beiläufig wie möglich: »Wann genau hast du Noth gesehen?«
Der winkte ab. »Das ist schon Stunden her. Gleich am Anfang meiner Schicht. Er wollte irgendwas aus seinen ehemaligen Räumen holen, und natürlich haben wir ihn dorthin begleitet.«
»Und natürlich auch wieder hinaus«, sagte er.
»Ja, klar. Allein wäre er ja nie durch unsere Siegel gekommen. Warum fragst du – ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Alles bestens.« Freundschaftlich klopfte er ihm auf die Schulter. »Du weißt, ich muss solche Dinge manchmal fragen. Es geht ja nicht an, dass hier jeder nach Belieben ein und aus geht. Nichts für ungut.«
Der Wächter lachte selbstzufrieden. »Den möchte ich mal sehen, der unbemerkt an unseren Wachen vorbei ins Allerheiligste hineinspaziert.«
Er hatte so jemanden gerade gesehen, doch das behielt er lieber für sich.
Mit gleichmäßigen und ruhigen Atemzügen versuchte Mila, ihre Pulsfrequenz zu senken. Sie hätte nie gedacht, dass Anthony dermaßen eifersüchtig und rücksichtslos sein würde. Ja, er war eindeutig ein Dämon, doch bisher hatte er ihr immer seine menschliche Seite gezeigt. Trotz allem mochte sie nicht glauben, dass er durch und durch böse war. So sehr konnte man sich doch gar nicht in jemandem täuschen. Schließlich stammte auch Lucian aus der Unterwelt – spielte er ihr etwa auch nur etwas vor? Wenn ja, musste das eine große Rolle sein, die er da einstudiert hatte. Mit Lebensrettung, atemberaubendem Sex, Zärtlichkeit und einem ausgeprägten Beschützerinstinkt hätte sie jedenfalls das Potenzial zu einem Hollywood-Blockbuster.
Andererseits, er war ein gefallener Engel. Mochten seine Flügel auch heute schwarz wie die Nacht sein, war er doch einst ein himmlisches Geschöpf gewesen. Anthony, da war sie sich fast sicher, wirkte viel zu menschlich, um ein geborener Dämon zu sein. Für wahrscheinlicher hielt sie es, dass er aus irgendeinem Grund leichtsinnig genug gewesen war, einen teuflischen Pakt einzugehen, und nun den Preis dafür zahlte.
Die Uhr im Glockenturm von Stanmore House begann zu schlagen, und ihr wurde klar, dass man sie schon in einer halben Stunde zum Lunch erwartete. Sie kannte sich gut genug, um auch ohne Spiegel zu ahnen, dass ihre Haare in alle Himmelsrichtungen abstanden und sie bestimmt auch einen Schmutzfleck mitten auf der Nase hatte. Kurz entschlossen umrundete sie das Herrenhaus und lief ins Cottage zurück, um sich frisch zu machen. Sie sah noch zerraufter aus, als sie befürchtet hatte. Mit kaltem
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