Feuerschwingen
Sorge, enttarnt zu werden, quälte sie und nächtliche Heimsuchungen geflügelter Wesen waren durchaus nicht ungewöhnlich. Doch in dieser Nacht war ein Paar grüner Augen hinzugekommen, das ihr überallhin zu folgen schien. Allerdings hatte sie den Eindruck, dass, wer auch immer hinter ihr her sein mochte, weit davon entfernt war, sie aufzuspüren. Dennoch, ein Hauch von Unsicherheit blieb, und sie überlegte, ob sie Gabriel um Unterstützung bitten sollte. Ob der allerdings auf ihre Kontaktversuche reagieren würde, stand in den Sternen. Ihr vorübergehender Schutzengel hatte sie mit den Worten verabschiedet: Mehr kann ich nicht für dich tun. Solange du dich an die Regeln hältst, wird dir nichts geschehen.
Dabei hätte er sie im Laufe seines Trainings gut genug kennengelernt haben sollen, um zu wissen, dass Mila nicht viel von Vorschriften hielt. Ein Grund, die Army trotz brillanter Karriereaussichten wieder zu verlassen.
Weil sich Entscheidungen größerer Tragweite am besten mit klarem Kopf treffen ließen, stieg Mila aus dem Bett, schlich die Treppe hinunter und öffnete die Terrassentür. Die Luft war noch kühl. Vom Meer kam feuchter Nebel herüber, den die Julisonne aber bestimmt bald auflösen würde. Schnell kehrte sie noch einmal ins Haus zurück, schrieb eine Nachricht für Florence und schlüpfte nach einer Katzenwäsche in eine bequeme Hose, T-Shirt und Sportschuhe. Bereits gestern, als sie den schmalen Weg gesehen hatte, der hinter dem kleinen Cottage-Garten in Richtung Küste führte, wäre sie ihm am liebsten gefolgt. Doch Florence fand, sie beide hätten genügend Aufregung gehabt. Lass uns lieber faulenzen. Morgen wird kein leichter Tag, fürchte ich.
Nach einigen Aufwärmübungen lief sie los, und es dauerte nicht lange, bis sich ihre Laune hob. Egal wie nervig der Job vielleicht werden würde, das Laufen gehörte ihr allein. Schon als Kind hatte sie diese Stunde kurz nach Sonnenaufgang geliebt. Damals nutzte Mila sie zum Balletttraining, und auch später behielt sie diese Vorliebe bei.
In der Militärakademie war es von Vorteil gewesen, so früh fit zu sein. Das gelang nicht vielen ihrer Mitschüler, und ihr hatte es wertvolle Bewertungspunkte eingebracht.
Die eingezäunten Koppeln lagen bereits hinter ihr, als sie nach langer Zeit unerwartet an ihren Vater dachte. Ob er stolz wäre, wenn er wüsste, wie weit sie es trotz aller Widrigkeiten geschafft hatte?
Milotschka Morgenstern hatte er sie manchmal genannt. Ihre Mutter mochte das nicht, und deshalb war dieser Kosename bis zu seinem Verschwinden ein wunderbarer Scherz zwischen Vater und Tochter geblieben. Inzwischen lebten ihre Eltern nicht mehr, und die Erinnerung verblasste allmählich.
Während sie die Gedanken fliegen ließ, hatte Mila fast unbemerkt den Küstenwanderweg erreicht, auf dem so früh zum Glück noch niemand unterwegs war. In der Tiefe schlugen die Wellen an den Strand, und sie fragte sich, ob man hier baden konnte. Das Wasser wäre kalt, doch ihr machte so etwas nichts aus. Sie war Härteres gewöhnt als ein erfrischendes Bad im Meer.
Weiter hinten, halb verdeckt von einem Wäldchen, hatte die Gemeinde oder wer sonst für die Sicherheit der Wanderer verantwortlich sein mochte, Schilder aufgestellt. Als sie näher kam, sah sie, dass sich dort ein ordentlich angelegter Aussichtspunkt mit Sitzbank und Geländer befand. Sie nahm die Sonnenbrille ab und kniff die Augen zusammen. Nun konnte sie sogar den Kirchturm von Ivycombe sehen, und im Norden, also in der anderen Richtung, glitzerten die Scheiben eines weiß gestrichenen Leuchtturms in der Sonne. Aber das Beste: Es gab eine Treppe hinunter zum Strand. Die war zwar durch eine Kette gesichert, doch die Konstruktion sah recht stabil aus. Entschlossen hob Mila ein Bein, um hinüberzusteigen, als hinter ihr ein lauter Pfiff ertönte. Jemand kam im scharfen Galopp den Sandweg entlanggeritten, und als sich Pferd und Reiter näherten, erkannte sie Boris von den Stanmore Stables .
»Sie darf nicht auf Treppe!«, rief er ihr zu, bevor er aus dem Sattel sprang und Mila fest am Arm packte.
Mit einer geschickten Drehung befreite sie sich und hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut«, sagte sie nach einem Blick in sein besorgtes Gesicht freundlicher, als ihr zumute war, und ging zurück auf den Weg, an dessen Rand das Pferd mit gesenktem Kopf genussvoll den Grassaum kürzte.
Als sie zu ihm ging, sah es auf und schüttelte die Mähne. Doch Mila hatte keine Angst. Sie streckte
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