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Feuersturm: Roman (German Edition)

Feuersturm: Roman (German Edition)

Titel: Feuersturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Bickle
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zeigte, hatte im Bürgersteig Wurzeln geschlagen, und Anya sah, dass die Wurzeln, die sich unter das Pflaster gegraben hatten, eine perfekte Symmetrie mit den Ästen bildeten, die sich über ihr dem dunstigen Himmel entgegenreckten.
    Zwei Türen weiter fiel ein Ziegelgemäuer, dem Anschein nach ein Lagerhaus, geräuschlos in sich zusammen und löste sich in Staub auf, der wie ein Sandsturm vom Wind fortgetragen wurde. Anya hielt sich die Nase zu, als der Staub vorüberzog. Er roch nach zerschlagenem Ton und war angefüllt mit Fragmenten, die glitzerten wie Glas.
    »Was passiert hier?«, keuchte sie. Der rote Staub wehte an ihren Beinen vorbei die Straße hinunter.
    »So etwas passiert hier mit den Dingen, die vergessen sind.« Charon zuckte mit den Schultern, als wäre es ganz alltäglich, zuzusehen, wie ein dreistöckiges Gebäude zu Staub zerfiel. »Erinnerung ist der Schlüssel. Energie erweckt die Dinge zum Leben. Gedanken sind Energie. Etwas, an das niemand – ob Geist oder Mensch – mehr denkt, verschwindet.«
    Der Staub verzog sich und hinterließ einen kahlen, leeren Fleck, der sich in einen brodelnden, siedenden schwarzen Abgrund verwandelte. Das war die wohl vollständigste Zerstörung, die Anya je zu sehen bekommen hatte. Instinktiv schrak sie davor zurück. Aber zugleich fühlte sich das Geschehen vertraut an. Ihre Finger berührten ihre Brust dort, wo das schreckliche, dunkle Feuer wütete. Es schmeckte nach Vergessenheit.
    »Wir müssen weiter. Ich erkläre dir unterwegs die Regeln.« Charon holte ein Motorrad aus dem Schatten des Devil’s Bathtub . Anya war kein Fan von Motorrädern. Feuerwehrleute und Sanitäter nannten sie auch »Organspendertaxis«. Charons Maschine war ein altes, verbeultes Krad, das Anya in einer TV-Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg zu sehen erwartet hätte.
    »Das ist dein hiesiges Transportmittel?«
    Charon schien ihre Vorbehalte zu spüren. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das erste Lächeln, das sie in seinem Gesicht zu sehen bekam, und das war kein unerfreulicher Anblick.
    »Was hast du erwartet? Den Kahn hab ich schon vor ein paar Tausend Jahren ausgemustert.«
    Anya konnte nicht einschätzen, ob er es ernst meinte oder nicht. Sie kletterte hinter ihm auf das Motorrad. Sparky krabbelte auf ihre Schulter, und sie schlang unbeholfen die Arme um Charons Leib. Selbst durch seinen Mantel verströmte er Kälte, eine Kälte, die durch ihre metallene Rüstung drang und sie schaudern machte. Auch sein Mantel roch nach Weihrauch.
    Charon gab Gas. Das Motorrad jaulte auf wie ein überforderter Rasenmäher und raste los. Anyas Magen schlug Purzelbäume, und sie spürte ein Spannungsgefühl in der Brust. Sie hörte, wie Sparkys Klauen über ihre Rüstung kratzten, als er sich um ihren Hals wickelte. Aus den tränenden Augenwinkeln sah sie, wie der Salamander den Kopf in den Wind hielt. Seine Zunge und seine Kiemenwedel schossen hervor, und er schien die Luft zu kosten, die auf sie einpeitschte.
    Anya schauderte. Wenigstens trug sie einen Helm.
    Aus zusammengekniffenen Augen sah sie die Umgebung vorüberrasen. Die schwarze Straße dehnte sich unter einem von der Dämmerung geröteten Himmel. Die ersten Straßenlampen flackerten in einer Vielzahl unterschiedlicher Modelle auf: Gaslaternen, elektrische Leuchten auf kunstvollen Pfählen und Lichter, die an schlanken Aluminiumarmen hingen. Irgendwo musste irgendein Bauingenieur von diesen Lampen geträumt haben, um ihnen hier Gestalt zu geben.
    Die Gebäude verschoben sich wie Wolken am Himmel. Manchmal sah sie Bauwerke, die so aussahen, wie sie sie aus der physischen Welt kannte: Fabriken, Häuser, Sehenswürdigkeiten. Aber bisweilen kehrten sie in frühere Zeiten zurück. Manches trat klarer zum Vorschein als anderes: Das Umfeld zweier Geister, die in einem Park Schach spielten, war faszinierend detailliert erkennbar bis hin zu jedem einzelnen Grashalm. Anya stellte sich vor, dass die beiden jahrzehntelang an jedem Wochenende gespielt hatten. Wartezimmer von Ärzten waren hell erleuchtet, und die abgegriffenen Zeitschriften auf den Tischen waren in jeder langweiligen Einzelheit zu sehen. Durch andere Fenster erblickte sie die Pulte in Klassenräumen samt der daruntergeschobenen Plastikstühle. Wände und Waggons voller Graffiti waren deutlicher erkennbar als ihre sauberen, neueren Gegenstücke. Supermärkte und Tankstellen verblassten in einem unscharfen, modrigen Nebel – offenbar widmete ihnen kaum jemand eine

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