Feuertanz
innen waren laute Trommeln und eine kreischende Geige zu hören, die gleichförmig das Hämmern durchdrang.
Gisela legte die Hand auf die Klinke, öffnete aber nicht.
»Diese jungen Leute hat Marcelo zusammen mit Felipe Medina trainiert. Felipe ist Halbbrasilianer. Schwedische Mutter und brasilianischer Vater. Der Vater hat sich vom Tanz zurückgezogen und arbeitet jetzt in einem ganz anderen Metier. Felipe begann zu tanzen, als er noch ganz klein war. Jetzt ist er zwanzig. Sehr begabt. Und weil es noch so früh ist, gibt er den Capoeira-Unterricht. Marcelo kommt sicher erst viel später.«
Sie lächelte Irene viel sagend an und fuhr dann fort: »Die Broschüre, die ich Ihnen gezeigt habe, ist Reklame für ein Straßenkinderprojekt in Natal, an dem Marcelo und Felipe beteiligt sind. Wenn die Kinder ihre Hausaufgaben machen, dann ist der Capoeira-Unterricht gratis. Wenn nicht, fliegen sie raus. Hart, meint Marcelo, aber nur so kann man sie davon abhalten, die Schule zu schwänzen und rumzulungern. Er muss es wissen, da er selbst aus Natal stammt. Das Honorar, das Felipe und Marcelo für ihren Capoeira-Unterricht hier im Haus des Tanzes erhalten, geht ohne Abzüge an das Straßenkinderprojekt. Das weiß ich, weil ich das Geld dorthin überweise.«
»Das Geld ist also für die Löhne der Capoeira-Lehrer in Natal«, vermutete Irene.
»Nein, die arbeiten gratis. Das Geld deckt die Miete und ist für das Essen der Kinder nach der Schule. Oft ist das die einzige richtige Mahlzeit, die sie erhalten.«
Gisela öffnete die Tür und trat in einen geräumigen, luftigen Übungssaal. Vor einer der Spiegelwände standen zwei junge Frauen und vier junge Männer, die sich für das Training aufwärmten. Der dunkelhäutige junge Mann, den Irene in der Cafeteria gesehen hatte, hatte seine gehäkelte Baskenmütze abgenommen und sah gar nicht mehr müde aus. Hunderte kleine Zöpfe hingen ihm auf den Rücken. Wenn er den Kopf bewegte, klapperten die kleinen Holzperlen an ihrem Ende. Genau wie die Männer auf der Broschüre trug er weite weiße Hosen und hatte einen nackten Oberkörper. Er sah durchtrainiert aus, ohne deswegen eine Bodybuilderphysiognomie zu haben. Das musste Felipe Medina sein.
Neben ihm machte das Mädchen mit den rosa Zöpfen Dehnungsübungen. Sie trug dünne weiße Hosen und ein limonengrünes Top. Sie wirkte fast genauso dünn wie am Tisch in der Cafeteria, unter ihrer bleichen Haut zeichneten sich jedoch Muskeln ab.
Das Aufwärmen unterschied sich von dem, das Irene vom Jiu-Jitsu kannte, und bestand aus schnellen, weit ausholenden Bewegungen. Plötzlich wurde die Musik leiser, und das Tempo verlangsamte sich. Alle stellten sich auf den Kopf. Felipe machte einen Luftspagat, das Mädchen mit den Zöpfen streckte die Beine senkrecht in die Luft. Alle blieben mehrere Minuten lang auf dem Kopf stehen. Als die Musik schneller und lauter wurde, begannen sie Räder zu schlagen. Die Musik wurde immer atemloser, und die Bewegungen rascher. Die nackten Oberkörper der Jungen glänzten vor Schweiß. Wie auf ein Zeichen hin stellten sie sich im Halbkreis auf und begannen mit den Händen den Takt zu klatschen. Felipe Medina und einer der anderen jungen Männer traten vor und stellten sich voreinander hin. Sie begannen sich in einer Abfolge zu bewegen, die Irene für eine sehr avancierte Kata hielt. Blitzschnell änderten sie ihre Position. Irene erkannte eine ganze Menge Grundtechniken wieder, gleichzeitig gab es jedoch große Unterschiede zwischen Capoeira und Jiu-Jitsu. Beim Capoeira gab es keinen Körperkontakt, sondern genau wie beim Karate wurden die Schläge nur angedeutet. Natürlich gab es auch Karatewettkämpfe mit Körperkontakt, mit full touch, wenn auch nur selten, da diese mit ernsthaften Verletzungen verbunden waren. Eine weitere Ähnlichkeit mit Karate waren die kräftigen Tritte. Manchmal sah Felipe aus, als schwebe er mit dem Kopf nach unten in der Luft, während seine Beine sich wie die Rotorblätter eines Hubschraubers drehten. Irene war klar, dass die Kraft eines solchen Tritts tödlich sein konnte. Dazwischen wurden Bewegungen akrobatischer Natur ausgeführt. Aber alles folgte dem mitreißenden Rhythmus der Musik, und es war wirklich ein Tanz, und dann auch wieder nicht, genau wie Gisela gesagt hatte.
Sie verließen die Capoeira-Gruppe und traten, den Rhythmus der Trommeln noch in den Ohren, wieder auf den Korridor.
»Jetzt verstehe ich, was Sie meinten, als Sie sagten, es sei nicht nur ein Tanz«,
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