Feuertanz
Kerzenstummel steckte in einer leeren Weinflasche, die offenbar als Kerzenhalter diente. Die Tischplatte war zerkratzt, und Wachs und nasse Gläser hatten auf dem polierten Holz ihre Spuren hinterlassen. Die Couch und die Armlehnen der Sessel wiesen Brandlöcher von Zigaretten auf.
»Raucht Marcelo?«, fragte Irene und deutete auf die Löcher, die die Glut in den Bezug gefressen hatte.
»Ob er raucht? Nein. Wieso? Ach so, die Löcher. Die stam men nicht von ihm, sondern von Ernsts erster Frau, die auf dem Gemälde im Schlafzimmer abgebildet ist. Meine Mutter hat erzählt, dass sie immer ihre Zigaretten vergaß, wenn sie einen über den Durst getrunken hatte. Wirklich lebensgefährlich. Schließlich hätte das ganze Haus abbrennen können …«
Er unterbrach sich und warf Irene einen raschen Blick aus den Augenwinkeln zu. Dann drehte er sich um und stieß die halboffene Tür auf.
»Hier das Schlafzimmer«, meinte er kurz.
Das Rollo war heruntergelassen, und das Zimmer lag im Dunkeln. Irene tastete nach dem Schalter und machte Licht. Der schwache Schein der Reislampe an der Decke vermochte das kleine Zimmer kaum zu erhellen. Es war nur mit dem gleichen Bett, wie es Sophie hatte, einem alten Küchenstuhl und einer kleinen Kommode möbliert. Wie erwartet war das Bett ungemacht. Der durchdringende Geruch von Aftershave lag in der Luft. Frej öffnete eine kleine Tapetentür, hinter der sich ein überraschend großer begehbarer Schrank verbarg, in dem Marcelos Kleider hingen. Schuhe und alle möglichen anderen Dinge lagen auf dem Boden verstreut. In dem Durcheinander stand ein Pappkarton, der bei rascher Kontrolle Papiere und Fotos enthielt. Irene hätte ihn gern genauer in Augenschein genommen, aber das ging nicht, da Frej ihr über die Schulter schaute.
Als sie das Schlafzimmer gerade verlassen wollten, fiel Irenes Blick auf ein paar Fotos, die mit Stecknadeln über dem Bett befestigt waren. Sie blieb abrupt stehen, und Frej stieß unsanft mit ihr zusammen.
»Was zum …?«, fragte er überrascht.
»Die Fotos«, sagte Irene und ging ein paar Schritte auf das Bett zu.
Vorsichtig nahm sie sie von der Wand.
Drei Farbfotos, und auf allen dreien brannte es munter.
»Frej. Was soll das hier?«, fragte Irene mit unbeabsichtigt strenger Stimme.
»Was? Ach die. Das sind Walpurgisnachtfeuer. Sophie wollte ein paar Fotos mit Feuer. Gewissermaßen zur Inspiration.«
»Inspiration?«, wiederholte Irene.
»Für das Ballett. Also für den Feuertanz. Marcelo hat ihr bei den Passagen geholfen, in denen wir Capoeira tanzen.«
»Haben Sie die Fotos gemacht?«
»Natürlich.«
Irene betrachtete die Fotos eingehender. Es konnte sich wirklich um ein großes Walpurgisnachtfeuer handeln. Das Feuer flammte über die Bildflächen, und auf einem der Fotos war der Umriss eines Kopfes im Vordergrund zu erkennen. Frej lächelte sie an und sagte: »Wenn Sie den Feuertanz gesehen hätten, dann würden Sie das verstehen. Das Feuer ist das Wichtigste im ganzen Ballett.«
Irene nickte und steckte die Fotos in ihre Jackentasche. »Ich will sie mir genauer ansehen. Können Sie Marcelo ausrichten, dass er sie zurückbekommt?«
»Okay. Er braucht sie eigentlich nicht mehr. Das Ballett ist schließlich fertig. Und ich kann weitere Abzüge machen, falls sie ihm doch fehlen.«
Frej verließ das Schlafzimmer und überquerte den schmutzigen Fußboden. Wie ein Kavalier hielt er ihr die Tür zur Diele auf. Es war schnell dunkel geworden, und die geräumige Halle sah überhaupt nicht mehr gemütlich aus, nur noch unheimlich. Frej ging auf die Treppe zu und betätigte den Lichtschalter an der Wandtäfelung. Auf der Treppe sowie in der unteren und der oberen Diele ging das Licht an. Irene war erleichtert, dass die Dunkelheit vertrieben war. In diesem alten Haus bekam sie noch Angst vor Gespenstern. Lächerlich. Sie hatte noch nie Angst vor Übernatürlichem gehabt. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie wusste, dass die unglückliche Anna-Greta die letzten Jahre ihres Lebens in diesem Haus verbracht hatte und hier auch gestorben war. Das Haus ließ sich nicht von ihr und ihrem tragischen Schicksal trennen.
»Hier entlang«, sagte Frej und öffnete die letzte Tür, die von der Diele ausging.
Hinter ihr verbarg sich eine schmale Treppe, die auf den Speicher führte. Sie war recht steil und beidseits mit einem stabilen Geländer versehen.
Sie gelangten in eine enge Diele mit drei Türen. Frej deutete zuerst auf die linke und sagte: »Meine
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