Feuerwasser
dir vor, wie das mit dem Echo dort oben tönt.«
»Na ja«, Martin war etwas enttäuscht, »einen Versuch wär’s immerhin wert.«
Schließlich langten sie am Sigriswilerberg – oder Hintersberg, wie er auch genannt wurde – an und setzten sich auf die Terrasse, um auf den Senn zu warten, der hier eine Alpgaststätte betrieb.
Das Staunen über die grandiose Fernsicht durch das ganze Tal hindurch auf den Niesen, der auf einigen Dunstschleiern über dem See zu schweben schien, entrang ihnen ein entrücktes Seufzen.
Irgendwann aber weiß man auch, wie das schönste Panorama aussieht, dann meldet sich Durst oder Hunger oder beides, und da sich der Senn immer noch nicht zeigte, begann Heinrich Müller, seinen Rucksack auszupacken. Fleischkäse in einer Dose, zwei Jahre haltbar; Frischetüchlein aus einem Flugzeug; Flüssigseife; starke Halogentaschenlampe mit zwei Batterien; Blasenpflaster groß; elastische Binden; Verbandmaterial; Wärmeschutz-Rettungsdecke Aluminium; Sonnencreme Schutzfaktor 20; Lippenpomade; Talisker Flachmann, gefüllt mit Single Malt Whisky; Wanderkarte 1:60.000 Jungfrau-Region inklusive Thuner- und Brienzersee; zwei Kondome Cosano regular; Papiertaschentücher; zwei Farmer Riegel zerdrückt, der eine ein halbes Jahr über dem Verfalldatum; Echter Appenzeller Bärli-Biber, zerquetscht mit Verbrauchsdatum von heute; zwei Dreiviertelliter Vittel ohne Kohlensäure; ein Dreiviertelliter Gatorade Red Orange; Feldstecher klein Carena Laser; eine Packung geräuchertes Pferdefleisch, aufgebläht und wohl ungenießbar; ein großer Brotanschnitt, Resten vom Samstag; ein Gravensteiner Apfel; eine leere Plastiktüte; grau-grünlicher Sonnenhut mit Nackenschutz; verspiegelte Sonnenbrille, Spiegelglanz abgewetzt und wahrscheinlich nur noch gegen Staub schützend; eine Kamera vom Typ Casio Exilim EX-P-600 mit 6 Megapixeln und 4-fach optischem Zoom, in Hülle mit Ersatzchip und –akku; eine Schiedsrichterpfeife; eine schwarze Regenjacke mit Kapuze, Expo.02, ›ImagiNation‹ auf dem Rücken in grauer Schrift; Unterleibchen weiß; Unterhosen grün; Socken schwarz; Ringbuch A6 und Kugelschreiber; Sackmesser mit sieben Funktionen; Gly-Coramin; fleckiger Traubenzucker, wohl feucht geworden; Hustenbonbons, überjährig.
»Willst du hier einziehen?«, fragte Martin.
Als alles ausgepackt war, trat der Senn hinzu und stellte sich als Wildberger Sämu vor. Er beachtete die Auslegeordnung überhaupt nicht, wischte mit dem linken Arm einfach eine genügend große Fläche frei, um ein Brett mit Alpkäse auf den Tisch zu stellen, der in hellem Gelb leuchtete, im Mund mit feinkörnigem Schmelz prahlte und mit süßem Kräutergeschmack für sich einnahm, bevor er sich im Gaumen mit leichter Schärfe verabschiedete. Ein Stück kräftiges Brot milderte die Säure, ein langer Zug aus der kühlen Rugenbräu-Flasche tat das Übrige.
»Du siehst nicht besonders gut aus«, sagte Martin Gerber.
Bei näherem Hinschauen war der Mann grau im Gesicht.
»Zu wenig Schlaf«, erklärte der Senn.
Seine Kleidung war nicht ganz sauber.
»Die Schweine«, erklärte der Senn.
Die Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab.
»Der unablässige Wind«, erklärte der Senn.
Überhaupt sah Wildberger Sämu aus wie ein Mensch, mit dem sich das Leben einige Späße erlaubt hatte. Seine Augen waren wie von Mehl bestäubt.
»Das Sennentuntschi«, erklärte Gerber.
»Darüber macht man keine Witze«, sagte Sämu.
»Erklären!«, verlangte Nicole.
»Mach du …«, sagte Martin zum Älteren.
»Na ja, da gibt es diese Sage, die im Alpenraum weit verbreitet ist. Wenn die Sennen auf der Alp gar zu einsam sind, basteln sie sich eine Puppe mit allem, was vorhanden ist: Besenstiel, Stroh, Kleidungsstücke, ein grob behauener Klotz als Kopf, einfach so, dass sie hübsch aussieht. Dann füttert man sie mit feißer Nidle 1 , bis sie dicker und dicker wird. Und nachts«, er räusperte sich, »fallen alle der Reihe nach über sie her.«
Er wurde still und überlegte, ob er den Rest auch noch erzählen sollte.
»Nun geht aber jede Alpsaison auch ihrem Ende entgegen«, fuhr er nach einer Pause weiter, »und vor dem Alpabzug kommt es zur entscheidenden Frage: Was geschieht mit dem Tuntsch? Ins Tal mitnehmen kann man das teuflische Geschöpf nicht, überwintern wird es kaum. Also gibt man ihm die Freiheit.«
»Eine faule Ausrede, das«, kommentierte Nicole.
Der Älpler schwieg dazu, ergänzte aber: »Deshalb sagt der Senn zu seinen Knechten, sie
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