Feuerwogen
Kälte.
Regina konnte sich warm halten – na ja, zumindest wärmer –, indem sie sich bewegte. Doch ihre Blindheit behinderte und erschreckte sie. Sie konnte nicht weiter als ein paar Meter stolpern, ohne über etwas zu fallen oder an etwas zu stoßen: Felsen. Wände. In jeder Richtung konnte sie nur ein paar Schritte aufrecht gehen. Sie war unter der Erde gefangen. Lebendig begraben. Die Schwärze zerrte an ihr, legte sich auf sie, drückte auf ihre Brust, verschlang sie. Sie schwitzte, ihr Herz raste, die Kehle war wie zugeschnürt. Sie musste tief ein- und ausatmen, um nicht loszuschreien, zu weinen, sich die Hände in der Dunkelheit an den kalten Steinwänden blutig zu schlagen.
Schlucken. Atmen. Es gab einen Weg hinein. Sie war doch hier, oder?
Noch einmal einatmen.
Es musste auch einen Weg hinaus geben.
Sie musste ihn nur finden. Auf Händen und Knien. Im Dunkeln. Ihr Herz pochte unangenehm heftig.
Sie erkundete ihr Gefängnis, indem sie sich vorwärtstastete, vorwärtskrabbelte, immer mit einer Hand oder Hüfte an der rauhen Steinwand zu ihrer Rechten, um den Weg zurück zu finden und nicht verloren zu gehen.
Verloren zu gehen
. Sie verbiss sich ein Schluchzen. Was für ein Witz.
Ihr fiel ein Ausflug ins Einkaufszentrum von Freeport ein, vor langer Zeit. Sie hatte sich vor einem Geschäft hingekniet, um den Reißverschluss an Nicks Jacke zuzuziehen.
»Wenn wir getrennt werden, will ich, dass du bleibst, wo du bist, okay? Rühr dich nicht von der Stelle, Mommy wird dich schon finden.«
Sie hätte das Einkaufszentrum auseinandergenommen, wenn sie nach ihm hätte suchen müssen.
Aber würde er nach ihr suchen? Woher sollten sie wissen, wo sie mit der Suche auch nur beginnen sollten?
Es tut mir leid, Nick. Ma, es tut mir so leid.
Der Ballen ihrer linken Hand schmerzte bereits, weil sie sie die ganze Zeit mit ihrem vollen Gewicht belastete. Ihre Knie taten weh. Die Finger ihrer rechten Hand waren aufgeschlagen und bluteten. Aber sie fand immerhin heraus, dass sie sich in einer Art Tunnel oder Höhle im Fels befand, der an dem einen Ende von Wasser begrenzt war. Sie schnupperte. Es roch frisch. Sie hob einen Finger vorsichtig an den Mund. Die Nässe fühlte sich kühl und angenehm auf ihren ausgetrockneten Lippen und in ihrem brennenden Hals an. Aber der Tropfen hinterließ einen mineralischen Nachgeschmack, den warnenden Hinweis auf Salzgehalt. Seufzend nahm sie Abstand von weiteren Geschmacksproben und kroch in der anderen Richtung weiter.
Der Korridor schlängelte sich hinauf und hinunter, über Felsbrocken und um Biegungen herum. Allmählich verengte er sich. Wurde bedrückender. Sie stieß sich die Knie an, den Kopf, schob sich nur noch zentimeterweise auf dem Bauch voran, bis es nicht mehr weiterging. Bis sie im Fels feststeckte wie eine Kakerlake in einer Mauerspalte.
Sie senkte den Kopf, legte die Wange auf den kalten, feuchten Steinboden und begann zu weinen. Sie schluchzte und klagte und wimmerte, bis ihre Nase lief und ihr Hals lichterloh brannte. Wasser. Sie brauchte Wasser. Sie wollte hier raus. Sie wollte nach Hause. Zu Nick. Zu ihrer Mutter.
Heiße Tränen tropften aus ihren Augen. Regina wischte sich das Gesicht an der Schulter ab. Es war so ruhig. So dunkel. Sie konnte ihr Herz in der Dunkelheit schlagen spüren und jeden keuchenden Atemzug hören. Die Stille lastete schwer wie der Fels auf ihr.
Langsam fing sie an, zurückzukriechen, indem sie sich mit Fingern und Zehen abstieß. Jedes Mal, wenn sie sich an den Felsen die Hände aufriss und sich den Kopf stieß, stöhnte und keuchte sie.
Als der Tunnel wieder breiter wurde, krümmte sie sich zusammen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie lauschte dem leisen Klatschen des Wassers. Allmählich trocknete ihr Schweiß. Ihr Atem ging gleichmäßiger. Sie machte sich keine Sorgen mehr, dass Jericho zurückkommen könnte. Sie machte sich vielmehr Sorgen, dass er es nicht tun könnte.
Kein schöner Gedanke.
Sollte er nur kommen. Sie würde es ihm schon zeigen. Dreckskerl.
Sicher, in der ersten Runde hatte sie sich nicht so gut geschlagen. Er hatte sie fast umgebracht. Sie schluckte gegen den Schmerz in ihrem malträtierten Hals an.
Warum hatte er sie nicht umgebracht?
Vielleicht würde er doch zurückkommen. Sie hatte einmal eine Reportage über einen Kerl gesehen, der eine Frau in seinem Keller gefangen gehalten hatte. Jahrelang.
Regina fröstelte. Sie schlang die Arme um die Knie, damit sie nicht auskühlte. Die Luft
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