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Feuerwogen

Feuerwogen

Titel: Feuerwogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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in seinem Kopf wie einen fehlenden Zahn oder den Schmerz einer amputierten Gliedmaße pulsieren spüren. Seine Sinne schärften und dehnten sich aus. Er konnte den Wind in den Bäumen und das Wasser an den Felsen hören, den Schrei einer Möwe, das Tuckern eines Motors. Er konnte den Duft von Wacholder und Lorbeerbaum riechen, den Hauch von Seegras und Salzwasser.
    Aber er hatte keine Wahrnehmung von Reginas Sohn. Nichts klang nach »Nick«, nichts roch nach »Junge«. Nur das Rauschen der Wellen, der Geruch des Wassers …
    Dylan stieß keuchend die Luft aus.
Das Rauschen der Wellen.
    Die Flut stieg.
    Kälte kroch ihm in die Knochen. Er musste Nick finden. Jetzt.
     
    Regina reinigte Töpfe und betete, als ob sie ihren Sohn allein durch ihr Flehen retten könnte. Das Schrubben beschäftigte ihre Hände und ihren Geist und lenkte sie von dem Schmerz in ihrem Rücken und in ihrem Herzen ab.
    Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …
    Regina holte tief Luft und machte sich über eine verkrustete Pfanne her, während sie sich alle Mühe gab, das schweigende Telefon zu ignorieren, die kriechende Uhr, die Wut und die Panik, die in ihrer Brust schwelten.
    Es war nicht fair. Das hätte nicht geschehen dürfen.
    In dem Augenblick, in dem die Hebamme Nicks flaumigen dunklen Kopf an Reginas Brust gelegt hatte, hatte sie eine Abmachung mit Gott getroffen. Sie tauschte die elende, fünfmonatige Morgenübelkeit, die sechsundzwanzig langen und einsamen Stunden der Geburt, die schlaflosen Nächte, die Jahre ohne Sex gegen dieses Wunder. Ihren Jungen.
    Regina hätte für ihren Sohn alles getan, alles auf sich genommen, alles geopfert. Alles, um ihn zu behalten. Alles, um ihn zu behüten.
    Regina tauchte einen weiteren Topf ins Spülbecken. Leider hatte sie es vermasselt. Sie hatte Sex gehabt. Mehr als einmal. Sie hatte ihr Kind allein gelassen, um mit Dylan zu gehen, und jetzt war Nick fort.
    Sie hatte ihn nicht beschützt. Sie konnte nicht einmal mitsuchen, sondern nur neben dem Telefon warten und darauf vertrauen, dass Dylan ihn finden würde.
    Und zu versuchen, eine zweite Abmachung mit Gott zu treffen.
    Sie schrubbte, bis ihre Finger fahl und verschrumpelt waren, bis sich zu dem Schmerz in ihrem Rücken ein leiser, anhaltender Schmerz in ihrem Bauch gesellte. Ein Schweißfilm überzog ihr Gesicht und brannte in ihren Augen. Vielleicht waren es auch Tränen.
    Sie blinzelte und biss sich auf die Lippen, als ein neuerlicher Krampf messerscharf durch ihren Bauch fuhr. Nicht gut. Sie hatte nicht … Bei Nick hatte sie nie …
    Oh.
Sie krallte sich am Rand des Spülbeckens fest und krümmte sich vor Schmerz.
    Atmen.
Durch die Nase ein und durch den …
Au. Oh.
    »Regina?« Die Stimme ihrer Mutter, belegt und besorgt.
    Regina atmete ein. Richtete sich auf, ohne das Spülbecken loszulassen. »Alles in Ordnung.« Es musste doch alles in Ordnung sein.
    Antonia war nicht überzeugt. Ihre dunklen, strengen Augen erforschten das Gesicht ihrer Tochter. »Du hast ganz rote Wangen. Geh und wasch dir das Gesicht.«
    Regina nickte. Ihr war schwindelig. »Du musst … aufs Telefon hören.«
    »Zum Henker, Mädchen. Das weiß ich. Jetzt gönn dir endlich eine Pause.«
    Ja. Okay. Regina machte winzige Schritte auf dem Weg zur Gästetoilette, vorsichtig, wie eine alte Frau mit Gehhilfe.
    Es sind nur die Nerven, sagte sie sich. Stress. Sobald sie sich das Gesicht gewaschen und für eine Minute hingesetzt hätte, wäre es wieder gut.
    Sie drückte die Tür zur Damentoilette auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bevor sie eine Kabine betrat.
    Mit zitternden Beinen ließ sie sich auf die Toilette sinken.
    Sie zitterten noch immer, als sie Minuten später in die Küche zurückwankte und sich dabei mit einer Hand an der Wand abstützte.
    Antonia warf einen Blick auf ihr Gesicht und war sofort alarmiert: »Regina? Meine Kleine? Was ist los?«
    »Mama …« Ihre Stimme brach. »Ich blute.«
     
    Nick war nicht in der Höhle.
    Von Verzweiflung und der steigenden Flut getrieben, hatte Dylan das Loch aufgesucht, in das der Dämon Regina geworfen hatte, sowie den darunterliegenden Tunnel. Nick war nicht dort. Oder er hatte sich außer Rufweite bewegt.
    Oder … Dylan starrte auf die sich verfinsternde See und den violetten Himmel und zwang sich, sämtliche Möglichkeiten durchzudenken. Vielleicht konnte Nick nicht antworten. Vielleicht war der Junge gefesselt, geknebelt, tot.
    Oder bald tot.
    Die Flut brauste über die Steine, schwarz und silbrig

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