Feuerwogen
nicht entführt worden sein, um in Gefahr zu geraten«, unterbrach ihn Dylan. »Sobald er den Bannkreis des Wächtermals verlässt, ist er verwundbar.«
O Gott,
dachte Regina. Sie legte die Hände schützend über ihren Bauch.
»Verwundbar?«, fragte Antonia. »Das hier ist World’s End, nicht New York.«
Angst schnürte Reginas Kehle zu. Ihr Sohn war nicht von Kinderschändern geraubt worden. Sondern von Dämonen.
Sie schluckte angestrengt. »Warum? Du hast gesagt, er sei nicht in Gefahr.«
Dylans Gesicht wurde bleich. »Er hätte es nicht sein dürfen. Er ist für sie nicht von Wert.«
Das machte es noch schlimmer. Wenn er nicht von Wert war, konnten sie ihn töten.
»Kannst du nicht eine Meldung an die Medien geben?«, wollte Regina von Caleb wissen.
»Sobald wir Hinweise darauf haben, dass er entführt wurde, rufe ich den Sheriff von Knox County an«, versprach er. »Dann lasse ich ihn in die Datenbank aufnehmen. Aber zuerst müssen wir die Wohnung durchsuchen und mit den Nachbarn reden. Manchmal versteckten sich Kinder irgendwo. Kannst du beschreiben, was er anhatte?«
»Jeans. Ein T-Shirt. Blau? Ach, wir verschwenden doch nur Zeit«, rief sie, fast vor Sorge vergehend. »Die Flut … Er ist so klein.«
»Ich gehe jetzt«, sagte Dylan.
Reginas Magen brannte. Sie griff nach den Schürzenbändern. »Ich komme mit.«
»Keine gute Idee«, entgegnete Caleb. »Ich drehe eine kurze Runde zum Obdachlosencamp. Vielleicht hat ihn jemand gesehen. Du musst hierbleiben, für den Fall, dass Nick zurückkommt. Oder anruft.«
»Er kann nicht anrufen, wenn er entführt wurde«, blaffte sie.
Wenn er ertrank.
»Ich gehe.«
Dylan schüttelte den Kopf. »Ich bin ohne dich schneller.«
Sie hatte sich noch nie so hilflos gefühlt, hatte sich noch nie so gefürchtet. Ihr Herz war schwer, ihre Arme schmerzten, weil sie ihr vermisstes Kind nicht spürten. »Aber …«
»Vertrau mir«, sagte Dylan.
Sie fing seinen durchdringenden Blick auf. Konnte sie das? Sie hatte sich nie auf jemand anderen verlassen wollen, auf irgendeinen Mann. Andererseits hatte sie auch nie einen Mann wie Dylan gekannt.
Sie hatte ihm ihr Leben anvertraut. Und ihr Herz. Aber konnte sie ihm auch ihr Kind anvertrauen?
Sie streckte die Hände aus. »Bitte – bring ihn mir zurück.«
Dylan stand auf den Klippen und hielt einen abgeliebten Stoffbären mit einer schmutzigen roten Schleife umklammert.
Nicks Bären.
Bevor er gegangen war, hatte Regina ihm das Plüschtier gegeben, Angst in der Stimme und ihr ganzes Herz in den Augen.
»Bitte – bring ihn mir zurück.«
Die Sonne blutete über der See aus und befleckte die Wolken, als wären es Wundverbände. In einer halben Stunde würde das Tageslicht dahin sein. Während Dylan in der Dunkelheit gut genug sehen konnte, war das den Menschen, die Caleb für die Suche zusammengetrommelt hatte, nicht gegeben.
Dann würde Nick irgendwo da draußen allein in der Dunkelheit sein.
Wenigstens hoffte Dylan, dass er allein war.
Vor seinem geistigen Auge sah er die Selkie Gwyneth. Nicht, wie er sie lebendig gekannt hatte, als kleine, gierige Blondine mit Schlafzimmeraugen und einem durchtriebenen Lächeln. Sondern wie er sie zuletzt gesehen hatte, im Tod, nachdem der Dämon Tan mit ihr fertig gewesen war, mit gequältem, dunkelrotem Fleisch. Das Bild ließ Dylan das Blut in den Adern gefrieren. Bei dem Gedanken, dass sich Nick – ein Menschenkind, Reginas Sohn – unter ähnlichen Umständen in den Händen eines Dämons befinden könnte, brach ihm der kalte Schweiß aus.
Seine Hand schloss sich fester um den Stoffbären, als könnte er dem Plüsch die Auskunft über Nicks Verbleib abpressen. Erinnerungen hingen an dem verfilzten Spielzeug wie der Geruch von Waschmittel und Babyshampoo. Spuren von Regina, ihrem Lachen, ihrer Liebe, einer raschen und unbekümmerten Umarmung. Spuren von Nick, krank und verschlafen, ins Bett gekuschelt und in Sicherheit. Aber keiner dieser warmen und verschwommenen Eindrücke lieferte einen Anhaltspunkt für den Aufenthaltsort des Jungen. Der Bär hatte eine Verbindung zu Nick, Dylan nicht. Er konnte das Stofftier nicht so benutzen, wie er Reginas Kreuz verwendet hatte: um seinen Eigentümer aufzuspüren.
Er breitete die Arme aus, schloss die Augen und versuchte, gegen die Dunkelheit Nicks schmales Gesicht aufzurufen.
Er leerte seinen Geist, vergoss seine Kraft wie Wasser auf den Boden und forschte nach einem Hinweis, einer Spur, einem Zeichen. Er konnte Nicks Abwesenheit
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