Feuriger Rubin: Roman (German Edition)
auch einen Brief an ihren Vater zu schreiben. Zum Federmesser greifend schnitt sie sich eine frische Feder zurecht. Sie hatte bereits eine kurze Nachricht nach Antwerpen geschickt und ihre glückliche Ankunft gemeldet, nun aber wollte sie ihrem Vater in aller Form dafür danken, dass er ihr erlaubt hatte, nach England heimzukehren. Ob sie ihm verraten sollte, dass Robert Montgomery um sie warb, wusste sie nicht recht. Sie lächelte und nahm sich vor, ihr Geheimnis noch für sich zu behalten.
Als sie schließlich zu Bett ging, lag Velvet lange Zeit wach und dachte an Greysteel. Sie ließ die Stunden Revue passieren, die sie zusammen auf Roehampton verbracht hatten, und dachte an das duftende Heu und seinen harten Körper, als er sie an sich gedrückt und geküsst hatte. Breitere Schultern hatte sie noch nie gesehen. Sie rief sich jedes kleinste Detail in Erinnerung, als er sie über den See gerudert hatte und sie sein Muskelspiel beobachtete.
Velvet entglitt in einen Traum. Sie war wieder auf Roehampton und sah einem Schwanenpaar nach, das auf dem See auf sie zuschwamm. Als sie ganz nahe waren, flüsterte sie ihnen zu: »Ich wünschte …«
»Was wünschst du dir, Velvet?« Greysteels Hände umfassten ihre Schultern, er zog sie an sich.
»Ich wünschte, ich hätte jemanden, der mich festhält, der mich liebt und auf immer beschützt.« Sie spürte seine Hände auf ihrem Haar und seine harten Schenkel an ihrer Kehrseite. Plötzlich war ihr Körper ganz Anspannung, sie riss die Augen auf und wusste, dass es kein Traum mehr war. Jemand war mit ihr im Bett und drückte sie an sich, und sie wusste genau, wer es war. Sie versuchte zu schreien, er aber hielt ihr den Mund zu.
»Schrei nicht. Wenn man uns zusammen im Bett erwischt, bist du als Hure gebrandmarkt. Ich sage dann, du hättest mich hereingelockt in der Hoffung, meine Geliebte zu werden. Und wem wird man glauben?«
Der Whisky, den sie an ihm roch, verriet, dass er betrunken war. Sie dachte an das Federmesser auf dem Schreibtisch und wünschte, sie hätte es unter ihr Kissen gelegt. Reglos lag sie da, die Muskeln angespannt, wohl wissend, dass sie dem jungen Lüstling entkommen musste.
»Wenn du versprichst, still zu sein, nehme ich meine Hand fort.«
Velvet nickte langsam und holte tief und bebend Luft, als sie spürte, dass er die Finger von ihren Lippen löste. Sie wusste, dass er ihren Schrei ersticken und ihr wehtun würde, wenn sie um Hilfe zu rufen versuchte. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie sich selbst helfen musste. Reglos daliegend zählte sie bis zehn, dann schleuderte sie die Decke beiseite und schnellte vom Bett hoch.
Mit einem wüsten Fluch wollte er nach ihr fassen, erwischte ihr Nachthemd und zog sie zurück.
Sie setzte sich zur Wehr, und als ihre Hände seine Haut berührten, merkte sie, dass er nackt war. Wenn er nackt ist, ist er verletzlich. Sie winkelte ihr Knie an und stieß ihm in den Schritt. Ein gurgelnder Laut ertönte, und als er sich vor Schmerzen krümmte, spürte sie, wie ihr Nachthemd zerriss. Sie war frei. Sie rannte aus dem Raum und blieb erst stehen, als sie Emmas Kammer erreicht hatte.
Sie lehnte sich an die Tür, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
»Bist du das, Velvet?«
»Ja. Darf ich heute bei dir schlafen, Emma?«
»Natürlich, mein Liebes. Hast du schlecht geträumt?«
»Ja, ich hatte einen Albtraum. Nein, nein, zünde die Kerze nicht an. Es ist schon gut.« Sie wickelte ihr zerrissenes Nachthemd um sich und schlüpfte unter die Decke.
Allmählich ließ ihr Zittern nach, doch ihre Gedanken schossen rastlos umher und suchten nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma. Christian würde über ihre Befürchtungen sicher lachen. Sie hatte es ja schon getan. Und wenn es darum ging, Partei zu ergreifen, würde sich Lady Cavendish natürlich für ihren Enkel und nicht für eine arme Verwandte entscheiden. Sein Verhalten würde man entschuldigen, weil er betrunken war. Wenn sie hier blieb, würde dieser Lüstling sie wieder allein erwischen und sie zwingen, ihm zu Willen zu sein, das stand für sie fest.
Lebhafte Gedanken an ihre Kindheit suchten Velvet heim. Ihre frühesten Erinnerungen waren Lektionen, die ihr Vater ihr eingeprägt hatte: Niemals Furcht zeigen. Das wäre ein verächtliches Zeichen von Schwäche. Sie hatte sehr bald gelernt, ihre Ängste mit gespieltem Mut zu tarnen. Wollte man ihrem Vater glauben, waren Zaghaftigkeit, Angst, Furcht und Panik nur andere Bezeichnungen für Feigheit. Bei einer Cavendish
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