Fey 01: Die Felsenwächter
lieber die Fackel fallen lassen oder riskieren sollte zu stürzen. Die Vorstellung, mitten unter den Toten zu liegen, versetzte ihn in Panik. Schließlich griff er blindlings nach dem Kleidungsstück eines Toten, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Als ihm klar wurde, woran er sich eben festgehalten hatte, mußte er einen Aufschrei unterdrücken.
Die Ausdünstungen der Leichen waren kaum zu ertragen. Falls er jemals zurückkam, würde er sofort einigen der überlebenden Auds befehlen, hier sauberzumachen. Aber vorher mußte er entscheiden, was mit den Toten geschehen sollte. Sie konnten nicht einfach in den Cardidas geworfen werden.
Er hielt die Fackel so fest umklammert, daß seine Hand schmerzte. Als er sich freiwillig gemeldet hatte, zum Hafen zu gehen, hatte er sich nicht vorgestellt, was das bedeutete. So viele Tote. So viele Erinnerungen an die Schrecken des Tages.
Schließlich erreichte Matthias die Torflügel. Die Körper der Gefallenen hielten sie offen, aber jemand hatte zwischen ihnen einen Weg gebahnt. Als er hinaus ins Mondlicht trat, seufzte er vor Erleichterung. Sobald er die Mauern des Tabernakels hinter sich gelassen hatte, fühlte er sich sicherer.
Hier draußen lagen die Leichen einzeln verstreut, nicht zu Haufen getürmt wie in den Räumen. Das Mondlicht überstrahlte den Schein seiner Fackel, und am Himmel funkelten die Sterne. Wenn Matthias den Blick nach oben richtete, schien die Welt wieder so zu sein, wie er sie von klein auf kannte. Fast konnte er die Geräusche der nächtlichen Stadt hören: die Rufe der Straßenmädchen, den Streit zweier Betrunkener. Aber das war nur Einbildung. Eine seltsame Stille hatte sich auf Jahn gesenkt. Der Fluß plätscherte, und die Wellen schlugen gegen den Strand; sonst war alles ruhig.
Die Brise, die vom Fluß herüberwehte, war kühl und feucht.
Matthias strich sich das Haar aus der Stirn. Die Erschöpfung war von ihm gewichen. Er war überrascht, daß sein Körper, der heute so gnadenlos strapaziert worden war, immer noch Kraftreserven zu besitzen schien.
Er senkte die Fackel. Würde sie ihn verraten? Wahrscheinlich. Er wußte nicht, wer außer ihm noch durch diese Nacht schlich. Er drehte sich um und zog eine nicht angezündete Fackel aus der Halterung neben der Tür, ließ sie zu Boden fallen und steckte seine eigene Fackel in den Schlitz. Ihr Schein spiegelte sich auf den geöffneten Torflügeln. Als die Brise die Flamme bewegte, erleuchtete sie flackernd das Innere des Tabernakels.
Matthias überlief ein Schauder. Am liebsten hätte er diese Räume nie mehr betreten.
Er wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Robe ab und suchte sich zwischen den Gefallenen einen Weg über das Mosaik. Dieses Mosaik, das schilderte, wie der Zweite Rocaan seinen Gläubigen außerhalb Jahns die Geschriebenen Worte brachte, hatte er immer besonders gemocht. Die freudige Miene des Rocaan beim Anblick der Worte erinnerte Matthias an seine eigene Freude beim Studieren. Aber jetzt fragte er sich, ob er wohl jemals wieder imstande sein würde, das Mosaik mit dem gleichen Genuß wie früher zu betrachten.
Das waren kleine Verluste. Er konnte sich auf die kleinen Verluste konzentrieren, um nicht an die großen denken zu müssen. Über die großen nachzudenken würde ihn um den Verstand bringen.
Die Mauern, die das Gelände des Tabernakels umschlossen, verbargen die Aussicht auf den Cardidas. Eine Sekunde lang glaubte Matthias, über dem Wasser Stimmen zu hören. Er hielt den Atem an und horchte, aber er konnte nicht feststellen, ob er tatsächlich gesprochene Worte vernommen hatte.
Kleine Schauer liefen ihm über den Rücken. Das Wispern des Flusses klang wie das Flüstern der Toten. Er griff nach dem kleinen Schwert, das um seinen Nacken hing, und ließ die Finger über die stumpfe Klinge gleiten. Wenn er es jemals nötig gehabt hatte, an Gott, an den Roca zu glauben, so war es heute. Der Glaube der Feiglinge ist fest, verkündeten die Geschriebenen und die Ungeschriebenen Worte.
Er bezog diesen Spruch nicht gern auf sich selbst. Aber vor dem heutigen Tag hatte er die Wahrheit nicht erkannt, die hinter diesen Worten steckte.
Er hätte lieber einem Aud befehlen sollen, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber er kannte die Auds nicht gut genug, um einen auszuwählen, der sachlich berichten würde, was er gesehen hatte, und er wußte auch nicht, wie viele von ihnen überhaupt noch am Leben waren. Der Rocaan hatte befohlen, die seltsamen Lichter zu überprüfen, und
Weitere Kostenlose Bücher