Fey 01: Die Felsenwächter
religiösen Studien hatte er sich die Anwesenheit Unsichtbarer nur schwerlich vorstellen können, aber jetzt, im Angesicht eines zaubermächtigen Feindes, fiel es ihm nicht mehr schwer. Einen Augenblick lang saß er so still wie ein Toter.
Als er schon aufgeben wollte, hörte er wieder Schritte und Stimmen über dem Wasser. Er blinzelte, als könne er so im Dunkeln besser sehen. Vier Gestalten bewegten sich auf dem Pier – nein, fünf. Einer von ihnen legte den Arm um einen anderen, der Schwierigkeiten mit dem Gehen zu haben schien.
Sie waren groß, größer als er selbst, und ziemlich dünn. Nicht wie Inselbewohner. Die Bewohner der Blauen Insel waren klein und gedrungen. Man hatte geglaubt, Matthias wäre von einem Dämon besessen, als er in seinem fünfzehnten Lebensjahr plötzlich in die Höhe geschossen war. Er holte tief Luft und beobachtete die Fremden.
Die Fey liefen jetzt im Gänsemarsch hintereinander. Der Anführer blieb stehen und gab den Personen hinter ihm ein Zeichen. Eine tiefe, gedämpfte Stimme drang über das Wasser an Matthias’ Ohr. Sie benutzte die kehligen Laute, die Matthias nicht verstand. Dann steckte der Anführer die Hand durch den kleinen Lichtkreis.
Der Lichtschein breitete sich aus, bis er die ganze Hafenanlage erleuchtete. Jetzt konnte Matthias auch die anderen vier Gestalten deutlich erkennen. Sie waren blutbedeckt, und der, den die anderen stützten, schien bewußtlos zu sein. Verwundet.
Das Licht schien aus dem Nichts zu kommen. Es war, als risse der Saum des Nachthimmels auf und enthüllte das gefangene Tageslicht. Matthias sah den Widerschein des Lichts auf dem Pier, aber nicht seine Quelle, als versperrte ein Gebäude ihm den Blick durch eine offene Tür. Aber da war sowenig ein Gebäude wie das Geräusch von Wellen gegen Schiffsrümpfe. Die Angst, die ihn die ganze Nacht lang verfolgt hatte, kehrte zurück. Er bekam eine Gänsehaut.
Die Fey stießen den Verwundeten in den Lichtschein, und er verschwand spurlos. Dann folgten ihm seine Kameraden, einer nach dem anderen. Als sie alle verschwunden waren, hielt sich der Lichtschein nur noch einen kurzen Moment, bevor auch er erlosch. Matthias zwinkerte. Jetzt schien die Welt wieder in Ordnung.
Außer dem kleinen Lichtkreis, der noch immer über dem Pier schimmerte.
Wäre Matthias ein mutiger Mann gewesen, wäre er jetzt in den Tabernakel zurückgekehrt, hätte sich alles Weihwasser, das er finden konnte, geholt und es durch den Kreis geschüttet. Aber er war nicht mutig. Er war kein echtes Kind des Roca. Er hielt nichts davon, sich selbst für das Wohl seiner Mitmenschen zu opfern.
»Vergib mir«, flüsterte er dem Heiligsten zu.
Er ließ den Kopf auf die Knie sinken. Die Brise zerzauste sein Haar und liebkoste seinen Hinterkopf. Er blieb so lange still dort sitzen, bis ihm die Bedeutung dessen, was er soeben mit angesehen hatte, klargeworden war.
Die Fey hatten sich nicht zurückgezogen. Sie sammelten sich von neuem. Und sie würden es wieder versuchen. Die heutige Schlacht um Jahn war keine endgültige Niederlage. Sie war der Anfang einer langen, schrecklichen Geschichte.
DIE BELAGERUNG
(Ein Jahr später)
35
Emaque kauerte auf dem Deck. Die Uehe war eines der kleineren Schiffe, das man eigens ausgewählt hatte, weil es sich auf schwierigen Passagen leicht steuern ließ. Die Wetterkobolde hatten heftigen Regen befohlen. Die eisigen Tropfen umfingen Emaque in dichtem Wirbel und durchnäßten ihn bis auf die Haut. Er war nicht reich genug, um sich Schutzkleidung leisten zu können, und solange er im Schattenland lebte, war das auch noch nie nötig gewesen. Trotzdem war dieses stürmische, kalte Regenwetter immer noch besser als jener graue, leere Ort. Rugar hatte getan, was er konnte, damit die Fey sich dort zu Hause fühlten, aber ein richtiges Zuhause war nicht so neblig, mit halb durchsichtigen Wänden und ohne Himmel. Niemand war dafür geschaffen, so lange im Schattenland zu verweilen. Emaque staunte, daß sie es trotzdem alle so lange ausgehalten hatten.
Wasser tropfte ihm in den Mund, und er leckte sich die kalten Tropfen von den Lippen. Er lehnte sich gegen die hölzerne Reling und wartete darauf, daß ihn jemand rief. Als er noch neu an Bord war, hatte er sich die ganze Zeit an der Reling festhalten müssen. Seit er das letzte Mal auf einem Schiff gewesen war, war schon ein Jahr vergangen – seit dem schrecklichen Tag, als sie die Schlacht um Jahn verloren hatten. Für die
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