Fey 01: Die Felsenwächter
Toten herum, vorbei an den Ziegelöfen, die jetzt erloschen und kalt waren, und trat durch die offene Tür ins Freie. Aus einer Ecke des Hofes ertönten Klagelaute. Mit ihrer freien Hand schob Jewel sich die Kapuze aus dem Gesicht. Ein kleiner Inseljunge hockte neben den geschlossenen Stalltüren, die Arme um einen toten Mann geschlungen. Er schluchzte.
Eine Frau erblickte Jewel und rief ihr etwas in der Inselsprache zu. Jewel schüttelte den Kopf und ging weiter. Sie hoffte, daß diese Geste unmißverständlich gewesen war, aber die Frau folgte ihr. Jewel duckte sich noch tiefer unter ihre Kapuze und widerstand der Versuchung, einfach loszurennen. Wenn die Frau sie anhielt, würde sie sofort merken, daß Jewel eine Fey war. Und falls auch sie dieses Gift bei sich trug, war Jewel verloren.
Wieder mußte sie über ein paar Leichen steigen, um sich durch das zerstörte Tor schieben zu können. Die Frau wiederholte ihren Anruf, aber Jewel schüttelte wieder den Kopf. Sie wünschte sich, außer den Worten aus ihrer Vision und denen, die der Prinz sie gelehrt hatte, wenigstens ein paar Worte Inselsprache zu beherrschen. Aber der Satz »Ist alles in Ordnung?« würde bloß eine Unterhaltung eröffnen, anstatt sie zu verhindern.
Jewel ging mit schnellem Schritt die Straße entlang. Noch am Morgen hatte diese Allee so vielversprechend ausgesehen. Jetzt war sie übersät mit den verunstalteten Körpern ihrer toten Freunde. Sie warf einen letzten Blick auf den Palast. Schattengänger mußte sich noch hinter diesen Mauern befinden. Entweder kämpfte er um sein Leben, oder auch er war inzwischen tot.
Ihretwegen.
Und was war mit Burden, Shima und den anderen? Sie wußte nicht, wie viele ihrer Freunde tot zu ihren Füßen lagen. Wie vielen hätte sie noch helfen können, wenn sie nicht diesem Inseljungen gefolgt wäre?
Die Straßen waren bedrohlich still. Jewel schien eine der wenigen Personen zu sein, die sich überhaupt noch bewegen konnten. Wahrscheinlich versteckten sich die Inselbewohner, hielten sich an ihren dummen Wasserwaffen fest und ersannen Pläne, die Fey endgültig zu vernichten. Die einzigen Fey, die Jewel sah, waren tot.
Tot.
Sie stieg über eine Leiche nach der anderen; der Geruch wühlte sich wie etwas Lebendiges durch ihre Nase. Jetzt, wo sie es geschafft hatte, den Palast zu verlassen, würde sie auch die Schattenlande erreichen können. Wenn sie erst einmal dort angekommen war, fand sie ihren Vater wieder. Und falls sie ihn nicht fand, mußte sie selbst das Kommando übernehmen.
Sie würde dafür sorgen, daß die Hüter einen Gegenzauber für das Gift entwickelten.
Und dann mußten die Inselbewohner für ihre Taten bitter bezahlen.
34
Die Fackel in Matthias’ Hand war heiß. Er hielt sie vor sich ausgestreckt und versuchte, mit der anderen Hand das Gleichgewicht zu halten. Auf dem Weg die Treppe hinunter hielt er sich dicht an der Wand. In den tiefer gelegenen Räumen des Tabernakels hatte niemand Fackeln angezündet, und die Dunkelheit machte ihn nervös. Die Leichen sahen aus wie graue Klumpen; die umgestürzten Tische und Stühle bildeten ein Labyrinth, durch das er sich behutsam hindurchwinden mußte. In der Luft des Treppenhauses hing ein schwacher Geruch nach verkohltem Fleisch. Der Boden war klebrig, aber Matthias wollte lieber nicht darüber nachdenken, auf oder in was er da trat.
Seine Kehle war wie ausgedörrt. Als die Treppe das erste Stockwerk erreichte, verdrängte er den Wunsch, sich durch die Tür zu flüchten. So viele Tote an diesem heiligen Ort. Das verletzte ein Zartgefühl, das er bei sich nicht vermutet hätte. Beim Anblick der verdrehten, grauen Leichen verspürte er eine fast abergläubische Ahnung von Unheil. Dabei hatte er gehofft, inzwischen auch darüber erhaben zu sein. Bis jetzt hatte er nie an lebende Tote geglaubt. Aber jetzt schienen sich ihre Glieder im Schein der Fackel zu bewegen; blicklose Augen reflektierten den Feuerschein, Münder standen offen, als wollten sie gleich zu reden anfangen. Vielleicht, wenn er sich nur fest genug zwickte, würde dieser Alptraum verfliegen und endlich der Morgen kommen.
Als er den Schutz des Treppenhauses verließ, streckte er abwehrend die Hand aus. Noch ein paar Zentimeter, dann hatte er es geschafft. Er war den Toten jetzt so nah, daß sich seine Nackenhaare aufstellten. Fast wäre die Fackel seiner Hand entglitten, als er über ein Stuhlbein stolperte. Einen Augenblick lang konnte er sich nicht entscheiden, ob er
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