Fey 01: Die Felsenwächter
Schritte. Sie rappelte sich hoch und rannte zur Treppe. Auch die Stufen waren mit Toten übersät; die meisten von ihnen Fey. Nur wenige Inselbewohner waren unter ihnen, blutüberströmt, aber ihre Körper schienen unversehrt. Offensichtlich hatten weder die Fußsoldaten noch die Rotkappen es geschafft, den Palast zu betreten. Jedenfalls konnte Jewel keine Anzeichen dafür erkennen.
Was für ein Blutbad! Sie hoffte, daß ihr Vater sich rechtzeitig ins Schattenland zurückgezogen hatte. Falls auch er sich unter den Toten befand, würde sie ihm nie von ihrem Abenteuer berichten können.
Sie sprang die Stufen hinunter, bog um die Ecke und fand sich in einem Festsaal wieder. Auch hier war der Boden mit Leichen bedeckt, aber diesmal waren es vor allem Inselbewohner. Die Fey waren weit vorgedrungen, bevor die Giftträger sie eingeholt hatten. Ihr Vater hatte recht gehabt: Ohne dieses geheimnisvolle Gift wäre die Blaue Insel jetzt in der Gewalt der Fey.
Wer auch immer den Gang entlanggekommen war, er war ihr nicht gefolgt. Jewel blieb neben einem toten Inselbewohner stehen. Dieser hier war schlank und männlichen Geschlechts. Er trug ein blaßbraunes Gewand, in dessen Schutz sie vielleicht ungesehen zum Hafen gelangen konnte. Wenn sie es schaffte, es ihm auszuziehen.
Schattengänger hatte sein Stilett mitgenommen, und andere Waffen sah sie nicht. Wenigstens war dieser Fußboden trocken. Sonst hätte sie es nie gewagt, etwas auf dem Boden mit bloßen Händen zu berühren.
Jemand hatte dem Mann die Kehle durchgeschnitten. Kragen und Schulterpartie seines Gewandes waren mit getrocknetem Blut verkrustet. Jewel löste das Band unter seinem Kinn, aber dann entdeckte sie, daß es sich um eine Verzierung ohne jede Funktion handelte. Sie würde dem Mann das Gewand über den Kopf ziehen müssen. Ein schmutziges Geschäft, das eher zu einer Rotkappe paßte. Aber sie hatte keine Wahl.
Sie erhob sich und steckte die Fackel in eine leere Halterung. Dann trat sie wieder neben den Toten. Sie zerrte am Saum des Gewandes, bis es sich um die Taille des Mannes bauschte. Dann hob sie seine Beine an und zog ihn nach unten. Sie keuchte vor Anstrengung so laut, daß sie Angst hatte, sich zu verraten.
Bei diesem Gedanken beeilte sie sich noch mehr. So leise sie konnte, ließ sie die Beine des Mannes sinken, dann zog sie an den Armen und richtete den Oberkörper auf. Die Haut des Mannes war feuchtkalt, kaum noch warm. Sie fühlte sich sehr tot an. Jewel schauderte. Sie stützte der Leiche mit einer Hand den Rücken und streifte mit der anderen das Gewand nach oben. Unter seinem Gewand war der Inselbewohner nackt, und sie wandte die Augen von seinem bleichen, welken Körper ab. Das Gewand verfing sich an seinem Hinterkopf, und sie mußte es erst losmachen, bevor sie es ihm endgültig ausziehen konnte.
Dann schlüpfte sie selbst hinein. Als der starke, unangenehme Blutgeruch auf ihre Schleimhäute traf, zuckte sie zusammen. Das Gewand besaß eine Kapuze, die ebenfalls blutverkrustet war, sich aber auf der Straße noch als nützlich erweisen konnte.
Jewel war größer als der Tote. Das Gewand reichte ihr nur bis zur Mitte der Waden und ließ ihre kunstvoll gearbeiteten Stiefel frei. Auf der Blauen Insel trug niemand solches Schuhwerk – jedenfalls hatte sie noch keinen gesehen. Einen Augenblick hielt sie inne und betrachtete nachdenklich die Füße des Toten, aber seine Schuhe waren aus unbehandeltem, dünnem Leder. Sie riskierte eher, erkannt zu werden, als daß sie ihre Füße diesem unwirklichen Wasser aussetzte.
Stimmen hallten durch das obere Stockwerk. Sie unterhielten sich in der Inselsprache; die seltsamen, fließenden Laute kamen Jewel schon fast vertraut vor. Jewel riß die Fackel aus der Halterung und stieg vorsichtig über die Leichen hinweg, bis sie den Festsaal fast durchquert hatte.
Die Fenster waren mit Glasscheiben ausgestattet – eine kostspielige Angelegenheit, aber die Blaue Insel war schließlich für ihren Reichtum bekannt. Im Hof bewegte sich etwas: Mehrere Inselbewohner sammelten die Waffen der gefallenen Fey ein. Jewel folgte dem Gang bis zur Speisekammer. Auch hier roch es ekelerregend nach verwesendem Fleisch. Diese Kampfgefährten waren noch zu erkennen, aber trotzdem blickte Jewel rasch zur Seite. Das Herdfeuer brannte noch, und zum Teil kam der Geruch von dort. Eine zur Hälfte schon verbrannte Leiche lag auf den Fliesen der Einfassung. Jemand hatte versucht, sie aus dem Feuer zu ziehen.
Jewel ging um den
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