Fey 01: Die Felsenwächter
sein unordentliches Gemach genauso ärmlich aus wie die Zelle, die er sich mit anderen, jungen Daniten vor fünf Jahrzehnten geteilt hatte, bevor er endgültig in den Orden aufgenommen wurde. Er lief barfuß, obwohl seine Gelenke schmerzhaft geschwollen waren. Schon lange baten ihn die Ältesten, deswegen einen Arzt aufzusuchen. Er ging über den dicken Läufer, und als er bei der steinernen Treppe angekommen war, ließen die Schmerzen in seinen Füßen langsam nach.
Heute war ihm das Aufstehen besonders schwergefallen. Immer noch schlug der Regen gegen die Mauern des Gebäudes. Seine Gelenke schmerzten heftig, und er brachte es nur fertig, sein Bett zu verlassen, weil er sich selbst zur Belohnung eine Extraportion Pastete in Aussicht stellte. Erst als er die Kerze angezündet hatte und die Treppe hinabstieg, erkannte er, daß Gebete allein nicht mehr ausreichten. Der Gedanke tat ihm weh. Es war etwas, worüber er mit dem Heiligsten reden mußte.
Als er die Tür öffnete, war der Gang hell erleuchtet. Die Flammen unter den Lampenschirmen brannten kräftig; jemand hatte die Dochte erneuert und Öl nachgefüllt. Je älter er wurde, desto zahlreicher wurden diese kleinen Annehmlichkeiten. Es war, als wollten die Ältesten ihn dadurch vor dem Altern bewahren.
Die Wand war aus großen Steinen gemauert, deren weiße Tünche wöchentlich erneuert wurde. Den roten Läufer hatten die Auds in den Sümpfen von Kenniland gewebt. Die Wolle war eigens aus Nye importiert worden und besonders dick, weich und luxuriös. Selbst die Lampen mit ihrem geschwungenen, goldenen Fuß und dem kostbaren Glas sahen elegant aus.
Der Rocaan eilte aus dem Kerzenlicht zu der betont schmucklosen Hintertreppe. Der Stein war von den vielen Füßen glattpoliert, die seit Hunderten von Jahren hier hinauf- und hinabgestiegen waren. Die eisige Kälte der Stufen hatte eine beruhigende Wirkung. Der Rocaan hielt sich mit der linken Hand fest, während er langsam die schmale Treppe hinabstieg, die Kerze mit der Hand ausgestreckt, um die Stufen besser zu erkennen.
Als er unten angelangt war, schmerzten seine Gelenke erneut vor Kälte, und sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet. Nur hier fühlte er sich noch lebendig. Als tötete der Luxus gerade das ab, wonach seine Seele besonders verlangte. Er brauchte die Armut und Kargheit, um sich darauf zu besinnen, was wahrer Glaube bedeutete.
Die Stufen führten zu einem schmalen Gang, der einen Teil der ursprünglichen Kirche bildete. Diese palastartige Kirche, seit langem schon als Tabernakel bekannt, war anfangs nicht mehr gewesen als die kleine Hütte eines Heiligen mit einem Weihrauchgefäß, einem Altar und einem Kissen, auf dem sich die vorbeiziehenden Gläubigen bei ihrem Zwiegespräch mit Gott niederknien konnten. An diesem einfachen Raum hatte sich nichts geändert, nur vor dreihundert Jahren hatte der Fünfunddreißigste Rocaan ein Fenster einbauen lassen, um sich von dort gegen Angreifer zur Wehr zu setzen, die ihn gewaltsam aus dem Tabernakel vertreiben wollten.
Der jetzige Rocaan hatte den Raum, der vorher über Generationen vergessen worden war, zu Beginn seiner Regentschaft entdeckt. Er ließ ihn öffnen und reinigen und stellte ihn wieder in seiner ursprünglichen Schmucklosigkeit her. Als er jetzt die massive hölzerne Tür öffnete, fand er dort sein Kissen, das Weihrauchgefäß und den kleinen handgeschnitzten Altar vor. Der Raum war mit Wandteppichen geschmückt, die die Ältesten in Auftrag gegeben hatten und auf denen das Leben des Roca abgebildet war. An einer Wand hing, die Klinge nach unten gerichtet, ein einfaches silbernes Schwert, zum Gedenken an den Tod des Roca und seine folgende Aufnahme in die Hand Gottes.
Der Raum war eiskalt und roch nach Schimmel und Meerwasser. Die Wandteppiche waren so naß, daß Wasser aus ihnen auf den Boden tropfte. Um das Betkissen des Rocaan hatte sich eine Pfütze gebildet, von der ein kleines Rinnsal bis zur Tür lief.
Der Rocaan seufzte. Er hatte diesen Raum herrichten lassen, um sich hier dem einfachen Glauben hinzugeben, den er als junger Danite empfunden hatte, aber solange der Regen nicht nachließ, würde er auch mit den Unbequemlichkeiten seiner jungen Jahre weiterleben müssen. Später, beim Frühstück, würde er die Ältesten bitten, neue Wandteppiche in Auftrag zu geben. Gewiß würde der Regen aufhören, sobald diese gewebt waren.
Er schritt über das schmale Rinnsal und steckte eine Kerze in den schmalen Kerzenständer. Dann biß er
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