Fey 01: Die Felsenwächter
sich handelt.«
»Ich habe einen Verdacht«, erwiderte der Rocaan. »Seit Jahrhunderten teilen wir unsere Gewässer mit Nye, ohne daß deren Seeleute bis jetzt in der Lage waren, allein den Weg zu uns zu finden. Hin und wieder haben auch andere Seeleute versucht, die Blaue Insel zu erreichen, doch alle zerschellten sie an den Felsenwächtern oder kamen in der Strömung um. Aber es gibt ein Volk, das uns noch niemals angegriffen hat, ein Volk, das seit geraumer Zeit Nye besetzt hält.«
»Die Fey«, hauchte Matthias.
»Genau«, sagte der Rocaan. Er hörte sich gelassener an, als er sich fühlte. »Wenn die Geschichten über sie der Wahrheit entsprechen, sind sie äußerst bösartig. Ihr müßt auf dem schnellsten Weg zum König.«
Matthias nickte und stand auf. Kurz vor der Treppe drehte er sich noch einmal um. »Aber selbst wenn es die Fey sind … Wir können sie doch schlagen, nicht wahr?«
»Mit Gottes Hilfe«, erwiderte der Rocaan. Er faltete die Hände vor seinem gewölbten Bauch. Matthias verließ eilig den Raum. Die Antwort des Rocaan hatte ihn offenbar befriedigt.
Nicht jedoch den Rocaan selbst. Er blickte auf die geschlossene Tür. »Nein, Matthias«, murmelte er leise, als habe er die Frage noch nicht beantwortet. »Sie sind Soldaten, und wir sind Bauern. Sie werden uns abschlachten, bevor wir auch nur den Versuch unternehmen können, uns zu verteidigen.«
7
Das natürliche Hafenbecken des Cardidas auf der Höhe von Jahn, der Hauptstadt der Blauen Insel, war über eine Meile breit. Obwohl Rugar es schon vor seiner Ankunft gewußt hatte, war er nicht auf die gewaltigen Ausmaße des Stroms vorbereitet. Der Cardidas hatte starke Strömungen, und sein dunkles, bräunliches Wasser ließ auf Kupferanteile im Flußschlamm schließen. Die Brücke, die sich über den Hafen spannte, war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Ihre Türme standen in Abständen von nur wenigen Metern, und die steinernen Bögen waren so weit gespannt, daß die Schiffe mühelos passieren konnten. Auch jetzt, bei Dunkelheit und Regen, war die Brücke ein beeindruckendes Wahrzeichen.
Aber Rugar brauchte diesen Anhaltspunkt nicht. Die Stadt Jahn, die rings um ihn aus der Dunkelheit aufstieg, war mit einprägsamen Wahrzeichen dicht bestückt. Hätte er auf der Karte nicht gesehen, daß der Palast an der nördlichen Seite des Flusses lag und die Sakralbauten an der südlichen, hätte er zweifellos angenommen, Jahn verfüge über zwei Paläste. Der Tabernakel mit seinen fünf Türmen war der imposantere Bau, dessen weiße Wände wie Flammen durch die Dunkelheit blitzten. Er lag auch näher am Wasser. Die Türme des Königspalastes hingegen konnte er durch den dichten Regenvorhang kaum erkennen.
Die Luft hier auf der Blauen Insel war nicht so salzig wie die Luft auf hoher See, an die Rugar gewöhnt war. Die Frische drang wohltuend und kräftigend in seine Lungen. Er war bereit, seinen Platz einzunehmen. Seine Truppen hatten sich bereits über die Stadt verteilt. Er hatte gesehen, wie Jewels Einheit das Schiff verließ; die eigene Tochter, die mehr als alle anderen einem Soldaten glich, hochgewachsen und stolz war sie inmitten der Truppe marschiert.
Dies würde ihr letzter Kampf sein. Sie wußten es beide. Obwohl sie noch nicht zugegeben hatte, was bei den Felsenwächtern geschehen war, wußte Rugar über alles Bescheid. Es war der Anfang einer Vision gewesen. Sie begann jetzt zu Sehen.
Rugar blieb am Bug stehen, wo er bereits seit der Landung der Schiffe stand. Von hier aus hatte er den Abmarsch seiner Truppen beobachtet, hatte gesehen, wie die Leute langsam im Schutz der Dunkelheit ihre strategischen Positionen bezogen, die bei Sonnenaufgang eine schnelle Eroberung der Stadt ermöglichen würden. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Neben ihm hatten die Steuerleute die Seefahrer abgelöst, die sie alle sicher durch die Felsenwächter gesteuert hatten. Die Felsen waren gewaltig, dreimal so hoch wie die Schiffe. Rugar hatte das Gefühl gehabt, nicht mehr auf dem Meer zu schaukeln, sondern auf einer Wolke um einen Berggipfel zu schweben. Manchmal waren die Felswände zum Greifen nah gewesen. Er hatte all seine Kraft konzentriert, damit alles reibungslos verlief; nicht seine magischen Kräfte, denn diese verhalfen ihm nicht dazu, als Seefahrer zu arbeiten, sondern seine geistige Kraft, indem er aufmerksam jede Bewegung, jede plötzliche Kursabweichung registrierte, die das Schiff in Gefahr bringen konnte.
Das Gehirn des Nye war
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