Fey 01: Die Felsenwächter
und öffnete ihn mit der rechten Hand, wobei er ihn mit der linken festhielt. Er legte den Lederriemen auf den Tisch, griff in die Schafsblase und zog einen langen, schleimigen Streifen Haut heraus, ein wenig gekräuselt durch seine Länge und schwarz von Blut. Vorsichtig hielt er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger fest.
»Sind alle Streifen so dünn geschnitten?« fragte Caseo.
Fledderer nickte. »Die Infanterie griff schnell an und ließ viele von ihnen am Leben. Die Fußtruppen hatten nicht viel Arbeit.«
»Völlig unberührt«, sagte Caseo, zu den anderen Hütern gewandt. »Schaut euch das an. Gekräuselt, dünn, unverfälscht. Rugar hatte doch recht. Diese Insel ist für uns ein wahres Paradies.«
Fledderer biß sich auf die Unterlippe. Natürlich waren auch ihm die Meinungsverschiedenheiten zu Ohren gekommen, die Befürchtung, Rugars Visionäre Kraft lasse nach. Caseos Worte übten eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Unverfälscht. Generationen von Inselbewohnern, deren Leben von keinerlei schädlichen Zauberkräften beeinflußt worden war. Kein Wunder, daß ihre Seelen in den Fey-Lampen so strahlend hell leuchteten. Die Einwohner von Galinas hingegen waren den Fey schon vor ihrer Eroberung begegnet. Es machte den Kampf viel schwerer und die Nahrung, die die Blutnutzer entnahmen, viel dünner.
»Entschuldigt, Herr«, sagte Fledderer, wohl wissend, daß er jetzt nicht mehr gebraucht wurde. »Darf ich gehen?«
»Gleich, mein Junge«, erwiderte Caseo. Er verstaute die Haut wieder im Beutel und reichte sie zum Versiegeln an einen anderen Hüter. Er säuberte sich die Finger mit einem kleinen Tuch, das man ihm reichte. Dann drehte er sich zu Fledderer um, lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch und verschränkte die Arme. »Du hast gesagt, du hast diese Reste im Palast gefunden.«
Fledderer nickte. »Ich bin sicher, daß dort noch mehr zu holen ist.«
»Davon bin ich ebenfalls überzeugt«, sagte Caseo. »Deswegen möchte ich, daß du die anderen Kappen aus dem Hafengebiet zusammentrommelst und zum Palast führst. Wir sind hier mit unserer Arbeit fertig, und die Fußtruppen sind schon längst weitergezogen. Die Kappen werden sich wahrscheinlich eher damit beschäftigen, Steine ins Wasser zu werfen, als sich nach neuer Arbeit umzusehen.«
Fledderer preßte die Lippen fest zusammen und richtete sich auf. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr, daß Caseo ihn absichtlich reizen wollte. Die Hüter, und übrigens auch alle anderen, wußten nur zu gut, wie sehr eine tüchtige Kappe ihre Arbeit verabscheute. Rotkappen, die ihre Arbeit gern verrichteten, verfielen schnell dem Wahnsinn und wurden unzuverlässig.
»Darf ich gehen?« wiederholte Fledderer, diesmal ohne die vorschriftsmäßige Verbeugung vor Caseo.
»Hört ihr, er bestreitet es nicht einmal. Hast du auch Steinchen geworfen, bevor du uns gefunden hast, mein Junge?«
Fledderer zog ein paar neue Beutel aus seinem Hemd und fädelte sie an seinem Gürtel auf. Als er damit fertig war, wiederholte er in ruhigem Tonfall: »Darf ich jetzt gehen?«
Nachlässig winkte Caseo mit der Hand. »Du hast schon genug Zeit vergeudet. Geh jetzt.«
Fledderer drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte hinaus. Durch die ungewohnte Helligkeit in dem Zimmer der Hüter zuckten rote und grüne Blitze vor seinen Augen. Als er in der Dunkelheit verschwand, hörte er Solandas Stimme. Sie klang genauso warm, voll und musikalisch, wie er angenommen hatte, und er mußte die Ohren spitzen, um ihre Worte zu verstehen.
»Wenn du den kleinen Troll noch weiter ärgerst, dann wird er sich eines Tages an dir rächen.«
Fledderer fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde. ›Kleiner Troll‹ war noch schlimmer als ›mein Junge‹. Er neigte den Kopf und schlurfte davon. Es war sein Schicksal, von allen gehaßt zu werden, er verdiente diesen Haß, weil er häßlich und klein war und nicht über Zauberkräfte verfügte. Aber manchmal wünschte er sich den Tag herbei, an dem ihn niemand daran erinnerte, wie abstoßend er war. Das würde ein wahrer Festtag sein.
Er stieß die Doppeltüren auf und trat ins Sonnenlicht hinaus. Von allen Seiten ertönten Schreie, Klirren und Kampfgeräusche. Der Lärm hatte zugenommen, wahrscheinlich, weil er sich näher am Fluß befand und die Laute über das Wasser getragen wurden. Ohne einen Blick auf die Leichen zu werfen, eilte er die Rampe hinunter, auf der Suche nach anderen Fey, die genauso kleinwüchsig und blutbesudelt waren wie er.
Erst nach einer
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