Fey 02: Das Schattenportal
Erkenntnis, zuvor nicht rechtzeitig etwas unternommen zu haben? Weisheit und Voraussicht? Der Rocaan konnte es nicht wissen.
Er seufzte und ließ das Schwert auf seine Brust fallen. Hätte er nur früher gewußt, daß die für die Mündliche Überlieferung zuständigen Ältesten ebendiese unterdrückten. Welcher Rocaan hatte sich das im guten Glauben, dem Volk damit zu dienen, ausgedacht? Die Antwort auf diese Frage war für alle Zeiten verloren, obwohl der Rocaan sie zu kennen glaubte. Unter den Rocaans in der Abfolge zwischen Ende Zwanzig und Anfang Dreißig hatte es viele politische Intrigen und sogar Attentate gegeben. In jenen Tagen hatte der Rocaan nicht weniger Macht als der König, wenn nicht mehr, gehabt, und da das Amt nicht erblich war, glaubten viele Ältesten, sie sollten es bekleiden. Vielleicht war der damals für die Mündliche Tradition verantwortliche Älteste zum Stillschweigen angewiesen worden, um keine Region und keinen Kandidaten zu bevorzugen.
Der Rocaan umfaßte seine schmerzenden Knie. Er hatte endlich dafür gesorgt, daß sich das änderte. Er hatte sich mit dem Ältesten Eirman unterhalten und ihn angewiesen, die Geschichten über den Roca, wie sie die Auds und die Daniten erzählten, aufzuschreiben. Auch wenn die Geschichten womöglich nicht wahr waren, so warfen sie doch ein Licht auf den Teil der Geschichte, der verlorengegangen war.
Womöglich nutzten sie einem zukünftigen – oder jetzigen – Rocaan doch noch etwas.
Er schloß die Augen. Die Bürde lastete so sehr auf ihm, daß er schon fürchtete, jemand rufen zu müssen, der ihm vom Stuhl aufhalf. Gerade als er dabei war, sich aufzurichten, ging die Tür zum Audienzzimmer auf.
Der Älteste Reece verneigte sich vor dem Rocaan. Der jüngere Mann trug sein Danitengewand, das er immer beim Mitternachtssakrament anhatte, wenn er die Messe nicht selbst durchführte. Reece war so dünn, daß er schon fast ausgemergelt aussah. Er trug keine Kappe auf seinem kahl werdenden Schädel, und als er den Rocaan ansah, leckte er sich nervös über die Lippen.
»Vergebt mir, Heiliger Herr«, sagte er, »aber ich glaubte, Euch im Audienzzimmer noch stören zu dürfen.«
Der Rocaan seufzte. Er hatte sich gerade in seine Privatgemächer zurückziehen wollen. Andererseits konnte das auch noch ein wenig warten. Vielleicht würde ihm Reece anschließend vom Stuhl hochhelfen.
»Was habt Ihr auf dem Herzen, Reece?« erkundigte sich der Rocaan.
Reece nickte und schluckte, nervöse Angewohnheiten, die auf einen Mangel an Selbstbewußtheit hinwiesen. Reece war seit jeher schüchtern gewesen. Andererseits sollten die Ältesten unterschiedliche Charaktereigenschaften aufweisen, und keiner der anderen war mit dieser hier gesegnet.
»Ihr sagtet, Heiliger Herr, daß wir sofort melden sollen, wenn wir etwas Ungewöhnliches sehen«, sagte Reece. »Ich dachte, vielleicht solltet Ihr, da Ihr nicht selbst anwesend wart, vom Sakrament erfahren.«
Der Rocaan seufzte wieder. Schüchternheit konnte hin und wieder ziemlich nervtötend sein. »Ich kenne das Ritual, und ich kann mir auch denken, wer alles dort war, wenn Andre die Messe durchführt. Was ist denn passiert? Ist er auf und ab gehüpft?«
»O nein, Heiliger Herr. Seine Darbietung war sehr ergreifend.« Reece sah auf. »Wenn nur alle soviel Gefühl in das Ritual legten.«
Oder in das Leben. Die Schmerzen in den Beinen des Rocaan verschlimmerten sich. Er wollte aufstehen. »Ihr sagtet, etwas Ungewöhnliches sei geschehen.«
»Ja, Heiliger Herr.« Reece zupfte an seiner Schärpe; dann kreuzte sein Blick für einen kurzen Moment den des Rocaan. »Ich weiß nicht, ob Ihr Euch noch daran erinnert, wie ich, vor vielen Jahren, zum ersten Mal zu Euch kam.«
»Was hat das denn damit zu tun, Reece?« fuhr ihn der Rocaan an, der sich an ihr erstes Zusammentreffen weder erinnern konnte noch wollte.
»Nun, Heiliger Herr, wenn Ihr Euch nicht mehr daran erinnert, muß ich Eure Erinnerung auffrischen. Es ist wichtig.« Reece sah erstaunlich ernst aus.
Der Rocaan seufzte abermals und grübelte angestrengt nach. »Da war etwas wegen der Zeremonien.«
»Richtig, Hoher Herr. Ich reagierte auf das Weihwasser, wenn Ihr Euch erinnert. Meine Haut brannte davon. Ihr sagtet, ich sollte mir deswegen keine Sorgen machen, solange ich den rechten Glauben hätte, sei ich in Gottes Diensten willkommen.«
Der Rocaan setzte sich auf. Seine Müdigkeit war vergessen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Und er erinnerte sich, daß Reece
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