Fey 03: Der Thron der Seherin
geschmückten Wand wirkte er klein und zerbrechlich.
Der Junge verbeugte sich. »Vergebt mir, Sire«, sagte er, »aber Lord Holbrook läßt Euch ausrichten, daß die Ausrufer versammelt sind.«
Sire. Das war jetzt die korrekte Anrede für Nicholas. »Danke«, erwiderte er. »Sag ihnen, ich werde mich gleich im Festsaal einfinden.«
Der Junge nickte in seiner gebeugten Haltung. Dann verließ er den Empfangssaal im Rückwärtsgang und rannte los, sobald er Nicholas’ Blick nicht mehr auf sich ruhen fühlte.
Nicholas war vielleicht zehn Jahre älter als der Page, aber diese kurze Zeitspanne erschien ihm wie eine Ewigkeit.
Langsam folgte er dem Jungen. Die Robe, die er im Hinblick auf seine neue Stellung am Morgen angelegt hatte, schlug um seine Beine. Er hätte seine Hosen vorgezogen. Aber er war jetzt König. Zumindest mußte er so aussehen.
Die Tür zum Festsaal stand offen. Jemand hatte den Tisch entfernt und eine kleinere Ausführung von Alexanders Thron hineingestellt. In einem Augenblick der Verärgerung hatte Nicholas den Lords mitgeteilt, daß er das Audienzzimmer nicht mehr zu benutzen wünsche. Mochten die Lords über diese Entscheidung denken, was sie wollten, in Wahrheit wurde Nicholas das Gefühl nicht los, daß das Audienzzimmer seinem Vater gehörte. Aber Nicholas mußte lernen, daß seine Beweggründe niemanden interessierten. Nur seine Befehle und Taten. Der Thron symbolisierte, daß Nicholas jeder Wunsch erfüllt wurde, wenn es in der Macht der Lords lag.
Die Ausrufer hatten sich vor dem Thron aufgestellt. Es waren vierzig Knaben, alle jünger als der Page. Sie würden durch das ganze Land ausschwärmen und die Nachricht von Alexanders Tod bis in den letzten Winkel tragen. Da die Krönungsfeierlichkeiten so bald nach dem Tod des Königs abgehalten wurden, mußten die Ausrufer sehr diplomatisch vorgehen. Kleinere Lords und Landbarone würden beleidigt sein, wenn sie nicht zur Zeremonie geladen wurden.
Lord Enford hatte angeboten, die Einweisung der Ausrufer selbst zu übernehmen, aber Nicholas befürchtete, daß Enford zu viel Information preisgeben würde. Diese Aufgabe erforderte großes Feingefühl, und Nicholas würde dabei zum ersten Mal als König auftreten.
Lord Holbrook stand in der Tür. Seine kräftige Gestalt und das vom Alter zerfurchte Gesicht wirkten tröstlich. Als er Nicholas erblickte, lächelte er freundlich.
Nicholas lächelte zurück.
Lord Holbrook kündigte die Ankunft des Königs an, und die Ausrufer ließen sich auf das linke Knie nieder, wobei sie das Gesicht am gebeugten rechten Bein bargen. Nicholas starrte sie einen Augenblick an, ein Meer von rotgekleideten Rücken, alle schmal und verletzlich.
Eine derartig wichtige Aufgabe konnte man so jungen Knaben nicht anvertrauen.
Beinahe hätte er etwas gesagt, aber dann änderte er seine Meinung. Solange Nicholas’ Familie regierte, hatten kleine Jungen als Ausrufer gedient. Die Leute fanden Trost in der Tradition. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Veränderungen.
Die Jungen ließen für Nicholas einen schmalen Gang bis zum Thron frei. Eilig schritt er mit wallender Robe zwischen ihnen hindurch. In dem warmen Raum roch es schwach nach dem Schweiß junger Burschen. Nicholas erreichte den Thron und blieb einen kurzen Augenblick davor stehen.
Dieser Thron war aus Holz gefertigt, in das man kleine Schwerter geschnitzt hatte – Roca-Schwerter, wie die Größe und die Stellung mit der Klinge nach unten vermuten ließ. Auch die Armlehnen waren geschnitzt und besaßen am Ende Ausbuchtungen für die Finger des Sitzenden. Sitzfläche und Rückenlehne waren der Bequemlichkeit halber leicht schräggestellt. Nicholas wären ein oder zwei Kissen lieber gewesen.
Aber am allerliebsten hätte er zwischen den Jungen gekniet.
Er drehte sich um und bestieg den Thron, so wie er es für den Rest seines Lebens tun würde, ließ sich auf die Sitzfläche sinken und verstand zum ersten Mal, warum Thronsessel auf Podesten zu stehen pflegten. Die niedrige Plattform, auf der dieser Thron stand, war kaum hoch genug, daß Nicholas die Kinder überragte.
Als er endlich saß, nickte er Lord Holbrook zu.
»Erhebt euch«, befahl der Lord.
Die Jungen standen auf. Alle blickten auf Nicholas. Ihre hellblauen Augen zeigten alle dieselbe Mischung von Furcht und Neugier.
»Ich weiß, daß es für euch ungewohnt ist, direkt mit dem König selbst zu sprechen«, begann Nicholas. Die Wolke in seinem Gehirn schien sich zu verflüchtigen, und zum
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