Fey 03: Der Thron der Seherin
ersten Mal seit der Versammlung konnte er wieder klar denken. »Aber ich hielt diesen Anlaß für wichtig genug, um euch selbst Anweisungen zu erteilen. Lord Holbrook hat euch bereits mitgeteilt, daß mein Vater, der König, tot ist. Wir werden euch bis in die entferntesten Winkel der Blauen Insel ausschicken, damit alle Menschen auf der Insel die Nachricht offiziell erfahren.«
Die Jungen musterten ihn aufmerksam, aber sie waren gut ausgebildet. Ihre schmalen Brustkörbe hoben und senkten sich, während sie hastig und nervös Luft holten, aber sie rührten sich nicht vom Fleck. Keine Unruhe, kein Kichern oder Mangel an Aufmerksamkeit, wie Nicholas erwartet hatte. Diese Jungen waren schon lange keine Kinder mehr.
»Ihr verkündet nur das, was ich euch auftrage. Nach eurer Rückkehr erstattet ihr Lord Holbrook über jeden Klatsch, sämtliche Gerüchte oder Unruhen Bericht. Sollte es ernstere Schwierigkeiten geben, schickt ihr eine Person eurer Wahl zum Palast zurück, um uns zu informieren. Ist das klar?«
Vierzig blonde Köpfe nickten gleichzeitig.
»Gut.« Nicholas’ Kehle war trocken. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet. »Ihr verkündet, daß König Alexander der Sechzehnte auf dem Weg in die Sümpfe von Kenniland gestorben ist. Ihm folgt sein Sohn, König Nicholas der Fünfte, auf den Thron. Wiederholt das.«
Vierzig junge, kräftige Stimmen rezitierten Nicholas’ Anweisung Wort für Wort. Es war ohrenbetäubend. Während die Jungen sprachen, blickte Nicholas über ihre Köpfe hinweg Holbrook an, der voller Stolz lächelte. Er und seine Männer hatten die Jungen ausgebildet. Nicholas selbst wäre nicht in der Lage gewesen, einen so langen Text derartig rasch und wortgetreu zu wiederholen.
Als die Knaben fertig waren, sagte er: »Sehr gut. Jetzt folgt der Rest der Bekanntmachung.«
Wieder wandten ihm die Jungen ihre aufmerksamen Gesichter zu. Es war seltsam, wie ähnlich sie einander sahen: Sie waren alle klein und von zartem Knochenbau, dabei mit einer seltsamen Neigung zur Vierschrötigkeit. Nicholas hatte sich schon zu sehr an die Gesichter der Fey gewöhnt.
»Da der Tod des Königs so unerwartet kam, sind die Berater des Königs übereingekommen, daß die Krönung von Nicholas dem Fünften unverzüglich stattfinden muß. Nicholas der Fünfte empfing den Segen des Roca am zehnten Tag des fünfzehnten Monats, als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte. Wiederholt das.«
Die Jungen gehorchten wie zuvor. Die Wucht ihrer Stimmen jagte Nicholas einen Schauder über den Rücken, und er hoffte, daß niemand es bemerkt hatte. Wie sollte das erst bei seiner Krönung werden … schon in zwei Tagen. Er hatte noch immer keinen Ort dafür ausgewählt.
»Im zweiten Monat, wenn die Trauerzeit beendet ist, wird es eine formelle Krönungsfeier geben. Die Zeremonie wird am sechsten Tag bei Sonnenuntergang in Jahn stattfinden. Wiederholt das.«
Ein drittes Mal sprachen die Jungen in völligem Gleichklang, wobei eine einzelne schrille Stimme mit noch größerem Nachdruck ertönte als die der anderen.
»Gut«, lobte Nicholas, als sie geendet hatten. »Fügt die traditionelle Schlußformel hinzu und wiederholt jetzt die gesamte Ankündigung.«
Die Jungen sagten alle drei Teile auf, indem sie zwischen jedem Teil eine Pause machten, wie um eine neue Erinnerung abzurufen. Holbrooks Mund formte die Worte mit ihnen. Offensichtlich hatte er sie sich selbst genauestens eingeprägt, damit er den Jungen notfalls helfen konnte.
Die Knaben schlossen mit: »Möge der Roca euch auf allen euren Wegen leiten.«
Bei diesen Worten zuckte Nicholas zusammen. Genau das war es, was Matthias Nicholas immer vorgeworfen hatte: mangelndes Verständnis für den Rocaanismus. Nicholas hatte den Roca noch nie um Hilfe angefleht. Er hatte noch nie den Heiligsten um Fürsprache vor Gottes Ohr gebeten. Seiner Meinung nach waren diese Dinge etwas für das einfache Volk, und jetzt, wo er dringend Trost brauchte, glaubte er nicht einmal an das, was anderen stets zu helfen schien.
Die Jungen waren verstummt. Angespannte Stille herrschte im Raum. Alle Anwesenden wandten Nicholas die Köpfe zu, als warteten sie auf seinen Kommentar. Auch Holbrook sah ihn an, die faltigen Züge zu einem Stirnrunzeln verzogen.
»Das war ausgezeichnet«, sagte Nicholas einen Augenblick zu spät. »Gut. Gut gemacht.«
Er nickte Holbrook zu. Plötzlich war er es leid, mit den Kindern zu sprechen, diesen Jungen, die nun von Dorf zu Dorf ziehen würden, um
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