Fey 03: Der Thron der Seherin
war, und er haßte die Vision. Wenn das seine Zauberkraft war, wäre ihm eine andere lieber gewesen.
Eine mit Flügeln.
»Ist mit ihm wieder alles in Ordnung?« erkundigte sich Gabes Mutter.
Großvater Rugar nickte. »Schick sofort nach mir, wenn es wieder passiert.«
»Wird es denn wieder passieren?« fragte Gabe. Er haßte die Vision. Er wollte nie mehr eine haben.
»Dein ganzes Leben lang, Junge«, erklärte Großvater Rugar. »Das ist nicht so schlimm. Und wenn es einmal aufhört, wirst du es vielleicht sogar vermissen.«
»Bestimmt nicht«, widersprach Gabe.
»Da bin ich nicht so sicher«, erwiderte Großvater Rugar.
Bei seinen Worten spannte sich Gabes Mutter noch mehr an. »Bist du Blind?« flüsterte sie.
»Natürlich nicht«, sagte Großvater Rugar. »Aber ich habe schon zu viele gesehen, die ihre Vision verloren haben. Ich weiß, wie schmerzlich das sein kann.«
Er stand auf, nahm seinen Umhang vom Haken und schwang ihn sich über die Schultern.
»Rugar?« fragte Gabes Mutter. »Wegen der Vision. Was kann ich tun?«
Rugar befestigte den Verschluß des Umhangs. »Was meinst du mit ›tun‹?«
»Die Verletzung, die Gabe gesehen hat. Manchmal glaube ich, es ist die Aufgabe von Visionen, zu verhindern, daß etwas passiert.«
»Das stimmt«, sagte Großvater Rugar. »Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Gabe hat gesagt …«
»Ich weiß, was Gabe gesagt hat. Ich sagte, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Gabe beugte sich vor. »Mama war verletzt.«
»Nein«, entgegnete Großvater Rugar. »Du hast gesagt, deine Mutter war verletzt, aber sie sah nicht aus wie deine Mutter, stimmt’s?«
»Ja«, gab Gabe zu.
»Dann braucht sich Niche auch keine Sorgen zu machen.«
Gabe runzelte die Stirn. Schon wieder eine Antwort, die er nicht verstand. »Warum nicht?«
Großvater Rugar sah ihn an. »Weil sie nicht deine richtige Mutter ist, Junge«, sagte er und verließ die Hütte.
Gabes Mutter stieß einen leisen Klagelaut aus.
»Du bist doch meine Mutter, oder?« fragte Gabe.
Sie antwortete nicht.
»Bist du es nicht?«
Sie hob den Kopf und küßte ihn dann mit weichen Lippen auf die Wange. »Doch, Gabe.«
»Warum macht er sich dann keine Sorgen um dich?«
Seine Mutter legte ihm die Hand in den Nacken und zog ihn fest an sich, so fest, daß er ihr nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. »Weil es mit Visionen so eine Sache ist. Sie werden nicht immer wahr.«
»Aber du bist doch besorgt.«
»Nur deinetwegen, Gabe.« Sie wiegte sich beim Sprechen sanft vor und zurück. »Nur deinetwegen.«
9
Burden stand knietief im Schlamm, hämmerte Holznägel in Holzbalken und versuchte, die Wand des Domizils zu flicken. Der kühle Frühlingsregen rann ihm über das Gesicht, und seine Finger schmerzten. Wenn er fertig war, mußte er eine der Heilerinnen auftreiben, um sich die Splitter aus der Haut ziehen zu lassen.
Sich in Jahn anzusiedeln war ein einziger Fehler gewesen. Nur sein Stolz hielt Burden davon ab, ins Schattenland zurückzukehren. Rugar würde sagen, daß nur Visionäre neue Kolonien gründen konnten, und er hätte recht damit.
In den vergangenen drei Jahren hatte sich die Siedlung aus einem kleinen, hoffnungsvollen Dörfchen in eine Stätte voller verängstigter Fey verwandelt. Die Häuser waren baufällig, weil die meisten Domestiken beschlossen hatten, im Schattenland zu bleiben. Diejenigen, die Burden gefolgt waren, waren jung und besaßen zwar einige Erfahrung mit Textilien, aber keine mit grundlegenderen häuslichen Angelegenheiten. Am Anfang hatten die Inselbewohner noch mitgeholfen, wie Jewel es versprochen hatte, aber die Unstimmigkeiten zwischen ihnen und den Fey waren inzwischen so ausgeartet, daß die Fey sich weigerten, mit Inselbewohnern zusammenzuarbeiten. Viele Inselbewohner trugen Gift bei sich, weil sie Angst vor der Magie der Fey hatten. Viele Fey drohten aus Angst vor dem Gift mit Magie.
In der Theorie war der Waffenstillstand eine großartige Sache, in der Praxis war er leider weit weniger erfolgreich.
Burden hatte es fertiggebracht, eine Art Schattenland mit Wetter zu erschaffen, das aber dafür weniger Schutz bot. Bis jetzt war noch kein Fey hier draußen gestorben, aber das war nur eine Frage der Zeit.
»Burden?«
Er seufzte und setzte den Balken auf dem Boden ab. Immer noch klaffte ein häßliches Loch in der Wand des Domizils. Der Schlamm gab ein schmatzendes Geräusch von sich, als Burden sich umdrehte.
Hinter ihm stand Hanouk, die
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