Fey 04: Die Nebelfestung
Schamanin den Namen des Kindes kannte, hielt sich aber doch zurück. Natürlich wußte die Schamanin Bescheid. Die Schamanin wußte alles.
Die Frau warf einen Blick in die Wiege. Arianna sah wie die Unschuld selbst aus, fromm und anspruchslos. Ihre Wangen waren vom Schlaf gerötet, ihre langen Wimpern ruhten auf der dunkel getönten Haut. Sie war eins der hübschesten Kinder, das Solanda jemals gesehen hatte – und Solanda hatte im Lauf der Jahre viele Kinder zu Gesicht bekommen.
»Sie ist wunderschön«, sagte die Schamanin.
»Solange sie schläft«, erwiderte Solanda.
»Beklagst du dich bereits?« In der Stimme der Schamanin schwang etwas Anklagendes mit. Glaubte denn keiner der Fey, Solanda könne zuverlässig an einer Sache dranbleiben? Das konnte sie sehr wohl. Sie war in der Lage, in sie gesetzte Erwartungen zu erfüllen. Das Problem lag darin, daß sie ihr niemals etwas abverlangten.
»Ich kann nicht von ihrer Seite weichen«, sagte Solanda. »Sie verwandelt sich nach Lust und Laune.«
Die Schamanin schob dem Kind die Decke unters Kinn. »Es macht doch wohl nichts, wenn du dir einen oder zwei Vormittage frei nimmst«, sagte sie.
»Doch«, erwiderte Solanda. »Sobald sie sich verwandelt, wenn ich weg bin.«
»Du machst dir zu viele Gedanken, Kindchen. Es sind schon andere Gestaltwandler groß geworden, ohne daß man sie rund um die Uhr bewacht hätte.«
Wandler sind groß geworden. Natürlich sind Wandler groß geworden. Aber sie waren nicht so wie Arianna. Solanda wußte nicht, wie sie die Schamanin davon überzeugen konnte, denn die Schamanin hörte offensichtlich überhaupt nicht auf das, was Solanda sagte.
Die knorrigen Finger der Schamanin spielten mit der Kinderdecke. Arianna war so winzig. Es war schwer zu glauben, daß ein so kleines Wesen das Leben eines anderen so komplett bestimmen konnte.
»Ich beschwere mich nicht zu sehr«, sagte Solanda. Sie ging in die Ecke, hob das versengte Deckbett hoch und warf es der Schamanin zu, die es mit der anderen Hand auffing, einen Blick darauf warf und mit den Fingern über die braunverfärbten Löcher fuhr. »In der vergangenen Nacht war sie Feuer. Am Tag davor war sie halb Katze … die falsche Hälfte. Am Tag davor war sie Wasser. Sobald sie wach wird, wechselt sie die Gestalt, und zwar immer in das, was sie gerade sieht. Wir beide halten sie vielleicht für zu jung dafür, aber Tatsache ist, daß sie es tut. Die Kinderfrau der Inselleute und ich passen auf sie auf. Ich kann nur schlafen, wenn das Mädchen im Zimmer ist.«
Die Schamanin ließ die verbrannte Decke auf den Boden fallen, beugte sich über das Bettchen, bis ihr Gesicht so dicht an dem Ariannas war, wie sie sich ihm zu nähern wagte, und berührte die Wange des Säuglings. Arianna gurrte und schob den Finger der Schamanin mit ihrer kleinen Hand weg.
»Weck sie nicht auf«, sagte Solanda leise.
Die Schamanin nickte. Auf ihrem uralten Gesicht war Verwunderung abzulesen. »Sie summt förmlich vor Magie. Sie fließt um sie herum und durch sie hindurch, als wäre das Kind ein Bett für einen Fluß.«
»Vermittle ihr bloß nicht dieses Bild«, bat Solanda müde. »Sonst probiert sie es noch aus.«
Die Schamanin ging zum Fenster. Ihr Rücken war gebeugt. Sie blickte hinaus. »Erstreckt sich der Garten rings um den ganzen Palast?« Sie klang erstaunt.
»Er ist sehr groß«, antwortete Solanda und wunderte sich über den plötzlichen Themenwechsel.
Die Schamanin legte die Hände auf die Fensterbank und schaute hinaus, so wie Solanda es während der vergangenen paar Tage getan hatte. »Es scheint, als sei die wilde Magie an diesem Ort wesentlich stärker, als wir angenommen hatten.«
»Ich weiß«, sagte Solanda.
»Diese Aufgabe verlangt sehr viel an Ergebenheit und Entschlossenheit von dir, und zwar so lange, bis dieses Kind seine Verwandlungen beherrscht – vielleicht sogar noch länger.«
Solanda sagte nichts. Das mußte sie auch nicht. Sie hatte sich in ihrem Herzen bereits dazu verpflichtet.
»Du darfst diesem Kind nicht erlauben, die Schattenlande zu betreten«, sagte die Schamanin.
»Ich kann es unmöglich ständig kontrollieren«, gab Solanda zurück. »Sie hat schon jetzt ihren eigenen Kopf.«
»Niemals«, sagte die Schamanin. »Das würde uns alle vernichten.«
»Wenn sie nicht dorthin kann«, erwiderte Solanda, »dann brauche ich hier Hilfe. Ich brauche einen Domestiken, jemanden, der mir zur Hand geht. Die einheimische Kinderfrau bemüht sich sehr, aber was ist, wenn ich
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