Fey 04: Die Nebelfestung
seine Schultern schmerzten, und seine Arme schmerzten. Er konnte nicht sagen, wie lange er noch durchhielt. Der Vollmond ging auf und warf sein beinahe taghelles Licht über das Wasser.
An dieser Stelle war der Fluß breit, und die Strömung deutete darauf hin, daß er auch tief war. Selbst wenn er es gewollt hätte, könnte er nicht hindurchwaten, und er konnte auch nicht auf die andere Seite schwimmen. Coulter, der sich vor den gewöhnlichsten Dingen ängstigte, würde im Wasser noch viel panischer reagieren. Mit einem so verängstigten Jungen konnte Adrian nicht einmal über ein ruhiges Gewässer schwimmen, geschweige denn über einen Fluß mit derartig starker Strömung.
Irgendwo vor ihm knackten Zweige. Die Fey kamen näher. Es konnte nicht ausbleiben.
»Coulter«, sagte er, »ich kann dich nicht mehr tragen. Du mußt jetzt selbst laufen, mein Junge.«
Coulter schüttelte den Kopf.
»Was du hier siehst, ist die wirkliche Welt, Coulter. Hier bist du geboren worden. Es ist alles in Ordnung. Und wenn nicht, dann setze bitte eine deiner besonderen Fähigkeiten ein. Aber ich muß dich absetzen.«
Es dauerte eine Weile, dann lockerte Coulter seinen Griff. Adrian unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und stellte den Jungen auf den Boden. Coulter hielt sich wie ein Zweijähriger an seinem Bein fest und starrte auf die Welt rings um ihn.
Auch Adrian ließ den Blick schweifen. Es war so lange her, daß er etwas Wirkliches gesehen hatte. Das Grau der Schattenlande dämpfte sogar leuchtende Farben. Hier hingegen schimmerte das Grün des Waldes sogar im Mondlicht kräftig und satt, sahen die Brauntöne lebendig und das Blau der Blumen geradezu atemberaubend aus. Der Geruch der Bäume und des Grases überwältigte ihn, und das Rauschen des Flusses kam ihm ohrenbetäubend vor.
»Ist es überall so wie hier?« fragte Coulter mit zitternder Stimme.
»Ja, überall ist es so schön«, antwortete Adrian. Er wußte nicht, wie er ihm erklären konnte, wie verschieden und doch ähnlich andere Gegenden waren.
»Ich kann nicht«, flüsterte Coulter. Er klammerte sich so fest an Adrians Bein, daß sich seine Finger in Adrians Haut gruben.
»Du mußt.« Adrian blickte um den Baum herum. Er konnte die Fey nicht sehen, aber er wußte, daß sie da waren. Irgendwo weiter drüben suchten sie ihn und Coulter.
Coulter schüttelte den Kopf und preßte das Gesicht an Adrians Oberschenkel. Adrian zog den Jungen wieder weg, ging in die Hocke und hielt Coulter so weit von sich, daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. »Ich weiß, daß du Angst hast«, sagte er. »Aber im Schattenland hätten sie dich getötet. Dir bleibt keine andere Wahl.«
»Sie haben mir vorher nie etwas getan«, sagte Coulter.
»Vorher wußten sie auch nicht, was du bist.«
Tränen sammelten sich am unteren Rand von Coulters Augen. Er rieb sie mit der freien Hand weg. »Ich will nirgendwohin«, sagte er. »Ich hasse es, dort zu sein.«
Adrian legte die Stirn an die des Jungen und wünschte, er könnte etwas von der Macht des Knaben in sich aufnehmen und sie beide damit beschützen. Aber das ging nicht.
»Versuche, neben mir herzulaufen«, sagte er. »Nur ein kleines Stück.«
Coulters Unterlippe zitterte. Eine Träne rollte über seine Wange. Adrian nahm Coulter an der Hand, aber bevor er aufstehen konnte, hatte ihn Coulter mit der anderen Hand am Handgelenk gepackt. »Laß mich nicht allein«, sagte er.
Adrian runzelte die Stirn. Er wußte nicht, wie Coulter auf diese Idee kam. »Ich würde dich niemals allein lassen«, erwiderte er.
»Aber wenn ich nicht … wenn etwas versucht … wenn sie uns fangen, dann laß mich nicht allein, bitte«, sagte Coulter.
»Ich bleibe die ganze Zeit an deiner Seite«, sagte Adrian.
Coulter nickte. Adrian spähte noch einmal um den Baum herum, konnte aber niemanden sehen. Er hoffte, daß Coulters geschärfte Sinne sie rechtzeitig auf das Nahen der Fey aufmerksam machten.
Sie machten den ersten Schritt. Coulter starrte auf seine Füße, die er vorsichtig zwischen die Dornenranken und herabgefallenen Zweige gesetzt hatte. Nach jedem Schritt zuckte er zusammen, als erwartete er, von etwas gebissen zu werden. Er hatte noch nie Boden unter seinen Füßen gesehen, immer nur dieses graue Nichts.
»Tu einfach so, als seist du in einer Hütte«, sagte Adrian. »Es ist so ähnlich wie ein Fußboden.«
»Was ist das alles für Zeug?« fragte Coulter.
»Gras und Holzstücke und Pflanzen. Dinge, die wachsen«, antwortete
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