Fey 09: Die roten Klippen
den Toten zurück!« Ariannas Stimme wurde immer schriller und kam jetzt einem Kreischen gefährlich nahe. »Sie erscheinen nicht einfach!«
»Man nennt es ein Mysterium.« Gabe trat neben Arianna. Zum ersten Mal empfand er Schuld. Ihre Mutter war nur ihm und ihrem Vater erschienen, nicht aber Arianna. Gabe wußte nur zu gut, was es bedeutete, nicht dazuzugehören, verlassen zu sein und sich ungeliebt zu fühlen. Er sah die Ungläubigkeit im Gesicht seiner Schwester, den Schock, und er sah, wie verletzt sie war.
Er reichte ihr die Hand, auf die sie nur abwesend starrte. »Ist das eine Besonderheit der Fey?« fragte sie mit zitternder Stimme.
Gabe nickte.
»Warum habe ich sie nicht gesehen?«
»Weil sie nur dreien von uns erscheinen darf«, erwiderte Gabe mit sanfter Stimme.
»Dir, mir und Vater«, sagte Arianna.
Gabe schüttelte den Kopf. »Die Magie der Fey ist nicht so einfach.« Noch nie zuvor hatte er Mitgefühl mit diesem Mädchen empfunden, hatte sie noch nie als verletzlich empfunden. Auch als sie bewußtlos dalag, als Coulter sie gerettet hatte, hatte Gabe gedacht, sie sei stark.
Jetzt machte sie keinen starken Eindruck mehr.
»Erzähl mir alles«, bat sie. Sie blickte ihren Vater nicht an. Sie hatte nur Augen für Gabe.
Er holte tief Luft. »Sie konnte den Menschen erscheinen, die sie am meisten liebte«, fing er an. »Also …« Er sah zu seinem Vater und wußte nicht, wie er ihn nennen sollte. Gabe hatte einen Vater gehabt, einen Adoptivvater namens Wind, den er Papa genannt hatte und der jetzt nicht mehr am Leben war. Gabe hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, ihn zu betrauern. Diesen Mann dort Papa zu nennen war irgendwie nicht richtig, aber es war genauso verkehrt, Nicholas zu ihm zu sagen.
»Papa, ich verstehe schon«, ergänzte Arianna barsch. Ihr Tonfall mochte gefaßt sein, aber ihre Augen, in denen Tränen standen, sprachen eine andere Sprache. »Wen noch?«
»Denjenigen, den sie am meisten haßte. Das war der Mann draußen, für den die Schamanin gestorben ist.«
»Meine Mutter hat die Schamanin getötet?«
»Außerdem«, fuhr Gabe fort, der sich nicht in umständliche Erklärungen dieser komplizierten Vorgänge verwickeln lassen wollte, »konnte sie noch eine weitere Person auswählen. Sie hat sich für mich entschieden.«
»Für dich?« Ariannas Unterlippe zitterte. »Warum ausgerechnet für dich?«
Gabe hörte den restlichen Satz so deutlich, als habe sie ihn tatsächlich ausgesprochen: Warum nicht mich? Hat sie mich nicht geliebt? Er wußte genau, wenn er ihr jetzt die falsche Antwort gab, würden er und seine Schwester für immer Feinde sein.
»Ich glaube«, erwiderte er, »sie mußte sich im Augenblick ihres Todes entscheiden.« Das mußte er noch besser ausdrücken. »Ich glaube, daß sie dachte, du würdest zusammen mit ihr sterben. Und erst in diesem Augenblick begriff sie, daß ich am Leben war.«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Arianna erst Gabe, dann ihren Vater an. Er sah verstört aus, als treffe ihn der neuerliche Verlust seiner Gattin und der Zorn seiner Tochter besonders schwer. Coulter stützte sich auf Adrian, während langsam wieder Farbe in sein Gesicht zurückkehrte. Adrian verfolgte das Zwischenspiel aufmerksam, sein sonst stets frohgemutes Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen. Fledderer hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schüttelte leicht den Kopf, als könne er nicht glauben, was ihm da zu Ohren kam. Leen musterte die ganze Gruppe. Sie hielt das Messer gezückt, als erwarte sie immer noch, daß etwas oben an der Treppe erschien, das sie töten mußte.
Arianna blickte Gabe erneut an. Ist das wirklich wahr?
Hatte sie gesprochen, oder hatte er die Frage nur gefühlt? Gabe war sich nicht sicher. Aber er wußte ganz genau, daß dies ihre Gedanken gewesen waren.
Er nickte, obwohl er log. Seine Mutter hatte ihm erklärt, sie habe ihn deswegen gewählt, weil Arianna Nicholas habe. Aber das brauchte seine Schwester nicht zu wissen. In ihrem Zustand hätte sie die Wahrheit jetzt nicht verkraftet.
Es hätte Gabe zerstört.
Dann ergriff ihn seine zornige, schwierige Schwester bei der Hand. Ein Strahl der Energie, von Wärme erfüllt, schoß plötzlich zwischen den Geschwistern hin und her. Es war, als habe Gabe seine andere Hälfte berührt, als habe er sein ganzes Leben lang auf diesen Augenblick gewartet. Ariannas schlanke Finger schlossen sich um seine, und ihre Augen weiteten sich.
Sie spürte es ebenfalls.
Einen Augenblick
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