Fey 09: Die roten Klippen
und blickte hinunter auf das Schlachtfeld. Die dritte Welle kam in ungeordnetem Rückzug und ziemlich hastig die Hügel herauf. Die erste und zweite Welle saß dort unten immer noch in der Falle, als hätten sie den Befehl zum Rückzug nicht mitbekommen.
»Und holt die dort unten raus«, sagte sie. »Holt sie raus.«
»Falls ich jemanden in dieses Durcheinander schicken kann.«
Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. »Jemand wird wohl gehen müssen.«
Ein Gemetzel. Genau das spielte sich dort unten ab. Ein Gemetzel.
»Irgendwelche Vorschläge?« blaffte sie.
Er schüttelte den Kopf. Sie war auf sich selbst angewiesen.
»Dann hol Ay’Le. Sofort!« Noch mehr Infanterie zu entsenden bedeutete, sie in den sicheren Tod zu schicken. Falls Ay’Le rechtzeitig hier eintraf, konnte sie den Bann mit Hilfe ihrer magischen Fähigkeiten womöglich bezwingen.
Sie konnte zum Rückzug rufen, damit auch diejenigen, die weiter drinnen im Bannkreis standen, ihn hörten.
Falls es bis dahin noch Überlebende gab.
»Sie soll auf einem Pferdereiter kommen«, sagte Licia. »Ich brauche sie sofort.«
Shweet ließ sich das nicht zweimal sagen. Er hob ab und flog mit eilig schlagenden Flügeln in Richtung Tal.
Wie schnell er dort auch ankommen mochte, es war nicht schnell genug.
Bis dahin würde das Schlachtfeld mit Toten bedeckt sein.
Mit toten Fey.
Es wird schwer werden, hatte Rugad gesagt. Aber er hatte nicht gesagt, wie schwer. Er hatte keinen seiner Anführer auf Niederlagen wie diese vorbereitet.
Mit der Hand an der Stirn sah Licia zu, wie der Großteil ihrer ersten Welle von den Inselbewohnern niedergemacht wurde. Die zweite Welle stand noch immer wie erstarrt am gleichen Fleck und wartete trotz der über die Hügel schallenden Rückzugsbefehle darauf, ebenfalls an die Reihe zu kommen.
Schon Rugads Sohn Rugar war besiegt worden und hatte zwanzig Jahre hier auf der Insel in der Falle gesessen. Vielleicht überschätzte auch Rugad seine Fähigkeiten, diese Leute, diese Inselbewohner zu besiegen.
Vielleicht hatten die Fey letztendlich doch noch ihre Meister gefunden.
DIE GEHEIMNISSE
(Nachmittag)
27
Rugad stand vor den Südfenstern des Turmzimmers, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Unter ihm dehnte sich die Stadt aus – kleinere Gebäude auf dieser Seite des Cardidas und zerstörte Fassaden auf der anderen. Der Tabernakel sah aus, als sei er noch in Funktion, bis auf die ehemals weißen, jetzt aber rußgeschwärzten Türme und die leeren Fensterhöhlen. Er wußte, daß der Kern der meisten Gebäude zusammengestürzt war, aber das war von diesem Ufer aus nicht zu erkennen.
Hinter dem Tabernakel erhob sich, so weit das Auge reichte, eine Wand aus Rauch über dem Land, wie eine gewaltige Wolkenbank kurz vor einem besonders schlimmen Unwetter. Das nachmittägliche Sonnenlicht hatte eine diesige, leicht graue Färbung angenommen, denn die Asche zog langsam in Richtung Norden.
Er haßte diese Art der Vergeltung. Er wußte, wie das Zentrum der Insel aussehen würde, wenn er damit fertig war. Überall Tote. Unschuldige Inselbewohner erschlagen, nur weil sich einige Narren in den Kopf gesetzt hatten, ein Widerstandsnest gegen die Fey zu bilden.
Hatten diese Narren denn nicht begriffen, daß die Fey schon seit Hunderten von Jahren kämpften, seit Hunderten von Jahren andere Länder eroberten? Ging es denn nicht in ihre Köpfe, daß auch in der Vergangenheit andere Gruppen versucht hatten, insgeheim Krieg gegen die Fey zu führen, sie bei Nacht und Nebel zu überfallen? Lag es denn nicht auf der Hand, daß die Fey wußten, wie man mit solchen Leuten verfuhr?
Rugad hätte es schneller begriffen.
Aber schließlich war er ein Krieger.
Obwohl er sich augenblicklich nicht wie einer vorkam. Es gehörte nicht zu seinem üblichen Gebaren, sich in einem befestigten Gebäude versteckt zu halten, während seine Soldaten draußen kämpften. Nicht einmal die Aufgaben dieses Morgens – er hatte erbärmliche, zu Tode geängstigte Inselbewohner verhört – hatten ihm das Gefühl vermittelt, nützlich zu sein.
Er war nur noch mißmutiger geworden.
Zuerst hatte Selia Dimar, den Doppelgänger, zu Rugad gebracht. Dimar sah inzwischen besser aus. Seine Fey-Züge waren schon fast vollständig in seiner Inselgestalt aufgegangen. Nur wenn man wußte, wonach man suchte, konnte man noch den Fey im Doppelgänger entdecken.
Er hatte Dimar über die Religion ausgefragt. Dimar wußte so manches darüber,
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