Fey 09: Die roten Klippen
Zaubermeister? Dessen Macht diejenige seines Bruder ergänzte – eines Visionärs?
Der Roca hatte den Ort der Macht aufgesucht und war verändert von dort zurückgekehrt. Er hatte zwei Söhne, von denen einer das Geschlecht der Regenten der Blauen Insel begründete und der andere am Anfang einer Ahnenreihe religiöser Führer stand.
Aber die Religionsoberhäupter wurden unter den Zweitgeborenen im gesamten Königreich ausgewählt. Eine höchst merkwürdige Geschichte.
Es sei denn, der erste Rocaan, der Sohn des Roca, war tatsächlich ein Zaubermeister, der bis zu seinem Tode regierte – verrückt, wie die meisten Zaubermeister.
Dann haben die Geistlichen womöglich aus Angst vor dieser Abstammungslinie darauf verzichtet, seine Kinder regieren zu lassen.
Aber was war dann geschehen? War es zu der Glaubensspaltung gekommen, von der einige Inselbewohner gesprochen hatten? Hatten sich die Enkel des Roca von der »offiziellen« Religion getrennt? Und wenn ja, weshalb hatte der weltliche Herrscher, der in einer Erbfolge stand, das zugelassen? Aus Angst vor der Macht, die der Religion innewohnte? Ein außer Kontrolle geratener Zaubermeister konnte so ziemlich alles und jeden in seiner Umgebung ins Verderben reißen.
Rugad stellte lediglich Vermutungen an, aber die Vermutungen kamen ihm durchaus sinnvoll vor. Das Gefühl, das ihn bereits zuvor beschlichen hatte, das Gefühl, einer Sache dicht auf der Spur zu sein, verstärkte sich.
Tel beobachtete ihn mit goldgesprenkelten, angsterfüllten Augen.
Rugad schnippte mit den Fingern. Eine der Wachen nickte ihm zu. »Hol Selia her!« befahl er.
Der Posten verneigte sich und verließ den Raum. Rugad ging auf Tel zu, kam ihm aber nicht zu nahe. Ein Doppelgänger, der schon so lange auf sich allein gestellt lebte, nutzte womöglich jede sich bietende Gelegenheit.
»Ich muß alles wissen, was du mir von dieser Religion erzählen kannst«, sagte Rugad. »Alles, woran du dich erinnerst. Rituale, Gebräuche, wie unbedeutend auch immer. Kunstgegenstände, auch wenn sie dir damals unwichtig erschienen, ebenso bestimmte Gesten, wie selten sie auch ausgeführt wurden.«
»Jawohl, Herr.«
Die Tür ging auf, und Selia kam herein. Rugad wandte sich mit einem Lächeln an sie. »Selia«, sagte er freundlich, »ich möchte dir Tel vorstellen. Er ist einer von Rugars Doppelgängern.«
Ihre Augen weiteten sich ein wenig, doch sonst ließ sie sich nichts anmerken. Sie würdigte Tel nicht einmal eines Blickes. Er war ein Versager, und sie rechnete wohl damit, daß Rugad lediglich ihre Reaktion auf die Probe stellte.
»Ich möchte, daß du ihn in dieses Verlies dort unten steckst. Niemand darf ihm zu nahe kommen, und damit meine ich wirklich niemand, weder Fey noch Inselbewohner. Er darf niemanden berühren. Niemand betritt den Zellentrakt allein, immer nur in Gruppen zu zweien oder mehr. Sein Essen bekommt er auf einem Tablett, das unter der Zellentür durchgeschoben wird.«
»Ich gehe nirgendwo hin«, sagte Tel.
Rugad starrte ihn zornig an.
Tel neigte den Kopf.
»Ich möchte, daß bei jedem, der in die Nähe seiner Zelle kommt, die Augen überprüft werden. Auch bei mir.«
»Bei dir, Herr?« fragte Selia.
»Auch bei mir.«
»Und was sollen wir tun«, fragte sie mit beinahe flüsternder Stimme, »wenn wir goldene Flecken in deinen Augen sehen?«
Er grinste. Das Dilemma war ihm ebenso klar wie ihr. Niemand konnte ihn – oder einen Doppelgänger, der wie er aussah – so leicht wie jeden anderen Fey töten.
»Meine Urenkel finden«, antwortete er, »und in der Zelle des Doppelgängers nach Knochen suchen.«
Sie nickte, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Allmählich fühlte sie sich in seiner Gegenwart nicht mehr so angespannt. »Am besten, du bringst dich nicht in diese Lage, Rugad.«
»Ich werde das tun, was ich für richtig halte«, sagte er. »Unser Freund Tel hat uns einiges zu erzählen. Allem Anschein nach war er in einer früheren Gestalt ein Schwarzkittel, sogar einer der hochrangigen Schwarzkittel, und er weiß so manches, das mir von Nutzen sein könnte.«
Selia legte ihre Hand auf Rugads Arm und wandte sich dann Tel zu. Als sie den Stallburschen strahlend anlächelte, wich einer der Wachtposten zurück, als hätte ihn die Wucht von Selias Schönheit körperlich getroffen.
Tel sah zu ihr auf.
»Deine Inselgestalt steht dir gut«, sagte sie mit einer rauhen Stimme, die in Rugads Ohr verführerisch nachhallte. Es mußte ihre Hexenstimme sein. »Kein Wunder,
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