Fey 10: Das Seelenglas
Unterhaltung geweckt. »Eine Explosion könnte so laut sein.«
Wenn sich eine derart laute Explosion ereignet hatte, dann war ihr Vater tot. Arianna streckte die Hand nach dem Torkreis aus, doch Fledderer hielt sie am Handgelenk fest. Sein Griff war eisern, seine Hand ledrig und stark.
»Er sagte, wir sollen hier warten, bis er uns ruft.«
»Und wenn sie alle längst tot sind? Wenn sie uns nicht mehr rufen können?« Jetzt war es heraus. Sie hatte die Angst ausgesprochen, die sie die ganze Zeit über schon bedrängt hatte.
»Sobald wir alle der Meinung sind, daß zu viel Zeit vergangen ist«, sagte Fledderer langsam und betont, als redete er mit einem Kind, »gehe ich raus und sehe mich um. Auf keinen Fall gehst du zuerst raus, hast du das verstanden?«
»Er ist mein Vater.«
»Und der von Gabe«, sagte Fledderer. »Und ihr beide seid der Grund, aus dem dieser Krieg geführt wird.«
»Leg ihnen das nicht zur Last«, mischte sich Leen ein. »Dieser Krieg begann schon lange, bevor sie geboren wurden. Es ist die Insel, hinter der der Schwarze König her ist.«
»Wenn das wahr wäre«, widersprach Fledderer, »wäre er schon längst nach Leutia weitergezogen.«
Arianna schluckte. Sie wußte, daß in diesen Worten viel Wahrheit lag. Aber ihr Vater war ihre ganze Familie. Sie wußte nicht, was aus Sebastian geworden war, und Solanda war tot. Gabe zählte nicht. Ihn hatte sie erst vor ein paar Tagen kennengelernt. Er mochte ihr Bruder sein, aber er gehörte nicht zur Familie. Noch nicht.
»Ich könnte mich verwandeln und …«
»Nein«, schnitt ihr Fledderer das Wort ab. »Du bleibst hier.«
Sie holte tief Luft. Sie hatten recht. Sie wußte es, aber der Gedanke mißfiel ihr.
Gabe nahm ihre andere Hand. Seine Berührung war sanft, weich, beinahe zärtlich. »Wenn da draußen nicht alles in Ordnung ist«, sagte er, und ihr fiel auf, daß er nicht sagte: Wenn sie tot sind, »dann werden wir beide, du und ich, den Kampf so gut wir können weiterfuhren. Auch wir haben Waffen. Wir können gegen den Schwarzen König kämpfen. Vielleicht gelingt es uns sogar, ihn von der Schwarzen Insel zu vertreiben.«
»Und ihn im Infrin-Meer zu ersäufen«, ergänzte sie hämisch.
Fledderer grinste. »Wenn dir das gelingt«, sagte er, »dann steht nicht Blut gegen Blut. Ertrinken geht normalerweise als Unfall durch.«
»Möglich«, murmelte Gabe. »Jedenfalls sollten wir uns, solange wir hier warten, auf das Schlimmste vorbereiten. Dadurch vergeht die Zeit schneller, und außerdem sind wir vorbereitet, falls etwas schiefgeht.«
»Ich will meinen Vater nicht verlieren«, sagte Arianna.
»Er dich auch nicht.« Diese Worte aus Fledderers Mund erstaunten sie. Er war nur selten freundlich. Dann bemerkte sie, daß er gar nicht freundlich war. Er sagte nur die Wahrheit.
»Er tut sicherlich sein Bestes, oder?« flüsterte Arianna.
Fledderer nickte. »Wollen wir hoffen, daß es ausreicht.«
45
Das dritte und letzte Schattenland war das schlimmste. Gefolgt von den Soldaten, die er in den anderen beiden Schattenlanden gesammelt hatte, trat Rugad ein. Der Gestank war grauenhaft – verbranntes Fleisch, gemischt mit entleerten Därmen und zu viel Blut. Der Geruch nach plötzlichem, gräßlichem Tod.
Wenn hier noch Soldaten am Leben waren, dann bestimmt nicht mehr lange. Rugad schluckte und drängte weiter. Er hatte gehofft, aus diesem Schattenland noch mindestens zwanzig Kämpfer zu holen. Das vorangegangene hatte noch dreißig Infanteristen und Fußsoldaten geborgen, dazu zehn nur leicht verletzte Tierreiter. Zusammen mit der Truppe aus dem ersten Schattenland machte das beinahe einhundert Soldaten. Und jetzt das hier.
Er war sich des Ernstes der Lage nicht ganz bewußt gewesen. Um ein Haar hätte er seine gesamte Armee verloren.
Und jetzt ging schon wieder etwas vor sich. Die ersten beiden Stöße, die den Berg erschüttert hatten, hatten sich schon sehr unheilvoll angefühlt. Nicholas war noch nicht besiegt. Ihm stand noch eine weitere Waffe zur Verfügung.
Aber auch diese Waffe würde Rugad umlenken. Es mußte so sein. Nicholas stand keine Magie zur Verfügung, die Rugad nicht für seine Zwecke nutzen konnte.
Rugad durchquerte das mit Toten und Sterbenden bedeckte Schattenland. Die Überreste seiner Armee lagen auf dem ausgetretenen Pfad, links und rechts davon ihre zerschmetterten und ausgebrannten Leichname auf Steinen und Felsbrocken, auf dem Gras und auf den spärlichen ersten Schneeflecken. An dieser Stelle war
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