Fey 10: Das Seelenglas
Die Berge sahen aus wie immer: als wären sie in Blut getaucht.
Sie fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte Haar und befahl einem ihrer Adjutanten, auf der Ostseite der Hügelkette neue Posten aufzustellen.
Die Inselbewohner hatten sich, was die Kunst der Kriegsführung anging, als ziemlich beschränkt erwiesen, wofür sie mehr als dankbar war. Sie hatte den Großteil des Vortages damit verbracht, auf einen Angriff aus der kleinen Stadt zu warten. Als er nicht erfolgt war, hatte sie sich gefragt, ob es sich lediglich um einen Trick handelte, um die Fey in Sicherheit zu wiegen. Sie hatte die Wachen verdoppelt und in der Nacht einige Eulenreiter auf Erkundungsflug geschickt. Sie hatten berichtet, daß sich die Inselbewohner offensichtlich auf eine Belagerung vorbereiteten.
Das war wenigstens ein kleiner Trost. Nur wenige Feinde der Fey griffen sie an. Nur die Nye waren in einer legendären Schlacht zum Angriff übergegangen, und vor ihnen die L’Nacin. Sie wußte, daß es auch andere gegeben hatte, aber so weit reichte die Erinnerung ihrer Soldaten nicht zurück. Diese Soldaten hier waren Verteidiger gewohnt, die mit ihren Herzen und ihren Körpern kämpften, nicht mit dem Verstand – und ganz gewiß nicht mit Magie.
Ihr Hauptziel hatte in jenen ruhigen Tagen darin bestanden, ihren Truppen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, daß die Fey auch früher schon auf Völker mit magischen Kräften gestoßen waren, wenn auch nicht auf so starken Zauber wie bei den Inselleuten. Sie erinnerte sie auch an das, was der Schwarze König vor ihrer Abreise aus Nye gesagt hatte, an das, was er auch wiederholt hatte, als sie vor kaum mehr als einem Monat auf der Blauen Insel angekommen waren:
Unterschätzt die Inselbewohner nicht.
Inzwischen trafen die Ersatztruppen ein, und zwar in einer Stärke, die sie sich nicht erhofft hatte. Offensichtlich legte Rugad größten Wert darauf, diese Gegend zu erobern. Er hatte Kendrad entsandt, die nun die Verstärkung in die tiefer gelegenen Regionen des Tales führte. Kendrad schien vom langsamen Vorankommen der Truppe entnervt zu sein, doch auch ihr fiel keine andere Möglichkeit ein, sie rascher ins Tal zu schaffen.
Wie Licia sorgte sie sich darum, daß die Inselbewohner zum Angriff übergingen, bevor die Fey darauf vorbereitet waren.
Aber Licia hatte keinerlei Hinweise auf Inselkundschafter gefunden. Sie hatte auf seiten der Inselbewohner überhaupt keine normalen Vorgänge beobachten können. Keine Gegenangriffe, keine Kundschafter und auch keine Melder, die um Verstärkung ausgesandt wurden.
Es machte ganz den Eindruck, als wäre das hier die einzige verbliebene Enklave auf der gesamten Insel, die die Inselbewohner deshalb bis zum Tod verteidigen wollten.
Wovor sie sich jedoch am meisten fürchtete, eine Angst, die sie niemals laut aussprach, war, daß die Inselbewohner einen neuen Zauber vorbereitet hatten, der diesmal mächtig genug war, um es mit der gesamten Streitmacht der Fey aufzunehmen.
Sie zitterte in der Kälte. Noch war die Sonne nicht über die zerklüfteten Ränder der Blutklippen gestiegen. Sobald sie die Bergspitzen überwunden hatte, würde es ein bißchen wärmer werden.
Eigentlich hatte sie gehofft, gleich nach Ankunft der Verstärkung gegen Mittag einen Angriff starten zu können, aber das oblag nicht mehr ihrer Kontrolle. Sie unterstand Kendrads Kommando.
Darüber empfand Licia keine echte Erleichterung. Kendrad war nicht wie jeder andere Kommandeur zu ihr gekommen. Kendrad hatte weder die Verluste noch das Terrain, noch die ungewöhnliche Gegenwehr der Inselbewohner mit ihr diskutiert. Kendrad hatte sich überhaupt nicht wie ein Kommandeur verhalten, der einen neuen Posten übernimmt.
Licia hatte seit Jahren nicht mehr mit Kendrad zusammengearbeitet, aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß Kendrad sämtliche Grundregeln der Truppenführung vergessen hatte. Und doch sah es ganz danach aus. Oder war sie vielleicht der Meinung, daß Licia, die einen der seltenen Rückzüge befohlen hatte, nicht wert war, zu Rate gezogen zu werden?
Jemand tippte ihr auf die Schulter. Licia drehte sich um. Eine Frau mit den klaren Zügen der Jugend und einem der eindrucksvollsten Gesichter, die sie jemals gesehen hatte, verbeugte sich leicht vor ihr.
Die Geste irritierte Licia. Sie unterdrückte ein Seufzen.
Noch eine Zauberin.
»Du sollst mit mir kommen«, sagte die Frau.
Licia nickte, sagte aber nichts. Die Frau führte sie durch eine kleine Ansammlung von
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