Fey 10: Das Seelenglas
sicher, ob sie entlassen war oder nicht, also wartete sie. Er streckte eine Hand aus, krümmte die Finger und ließ sie dann aufschnellen.
Um seine Hand erschien ein Torkreis. Ein Schattenland, schnell und geschickt errichtet.
Das war der Unterschied zwischen einem Visionär des Schwarzen Throns und einem minderwertigen Visionär wie ihr. Sie verfügte nicht über die Macht, ein Schattenland zu errichten oder ihre Vision lange genug offenzuhalten, damit sie die ganze Schlacht andauerte. Er konnte das alles tun, ohne auch nur darüber nachzudenken.
»Wenn wir die Verwundeten herbringen, errichte ich noch ein zweites«, sagte er. »Wir haben eigens mehr Heiler und Domestiken mitgebracht.«
»Gut«, antwortete sie ziemlich verdutzt. So rasch hatte ein Kommando für sie noch nie gewechselt. Es war von einem Anführer zum anderen übergegangen, und sie hatte nie ein Problem damit gehabt. Aber noch nie war sie dem Anführer des Fey-Reiches so nah gewesen, noch nie war ihr so leicht vertraut worden wie gerade eben.
Sie sollte den Mysterien und den Mächten danken, daß er ihrer Bitte so rasch Folge geleistet hatte; andernfalls würden die Rotkappen nicht nur Ay’Les, sondern ihren Körper gleich mit entbeinen.
»Selia«, sagte er zu der Zauberin, »bevölkere das Schattenland für mich.«
»Jawohl, Herr«, antwortete sie.
Er legte eine Hand auf Licias Schulter. Sie wußte nicht genau, ob sie die Berührung mochte. »Dann erzähl mir mal«, sagte er, während er sie in Richtung der Verwundeten dirigierte, »ob du wirklich glaubst, daß wir diesen Kampf gewinnen können?«
Alles hing jetzt von ihrer Antwort ab. Zumindest alles, was sie betraf. Ihr Kommando. Ihr Leben.
»Ja«, sagte sie.
»Das ist die Antwort, die ich hören wollte«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Deshalb glaube ich dir nicht.«
Sie blieb stehen, sah ihn an und hob ein wenig das Kinn. »Wenn ich nicht daran glaubte, daß wir gewinnen können, hätte ich nicht um Verstärkung gebeten.«
Er lächelte und ließ die Hand auf ihren Rücken herunterrutschen, um sie weiterzuschieben.
»Sehr schön«, sagte er. »Denn ich glaube auch, daß wir gewinnen können.«
15
Jahn sah verlassen aus.
Luke stand am Rande dessen, was einmal die Landgüter eines Adligen gewesen waren. Er war erschöpft und hungrig. Der Proviant war ihnen schon vor Tagen ausgegangen, und jetzt, nachdem sie die Stadt erreicht hatten, wußte er nicht mehr genau, was er als nächstes tun sollte.
Con stand neben ihm und starrte ebenfalls in die Ferne.
Die Feuer waren schon lange verloschen. Die Stadt bestand fast nur noch aus Schutt und Asche. Der Tabernakel stand zwar noch, doch seine Mauern fielen ein, seine Fenster waren verschwunden, die weißen Wände rußgeschwärzt. Auf der anderen Seite des Flusses erhob sich der Palast zwischen den Trümmern und sah aus, als hätte all das ihm nichts anhaben können, als könne ihm nichts und niemand jemals etwas anhaben.
»Glaubst du wirklich, er ist dort drinnen?« fragte Luke.
»Wo sonst?« fragte Con zurück.
Aber Luke antwortete ihm nicht. Sebastian konnte überall sein. Womöglich war er sogar tot, falls solche Geschöpfe überhaupt sterben konnten. Andererseits konnte er auch bei den Fey-Einheiten sein, die das ganze Land hinter ihnen zerstört hatten.
Luke und Con hatten es gerade noch geschafft. Auf ihrer Flucht von einem Feld und von einem Weiler zum anderen waren sie immer wieder auf Gruppen von Fey gestoßen, Fey, die es darauf abgesehen hatten, das gesamte Zentrum der Insel zu zerstören. Luke und Con war es gelungen, sich in Wiesen und Gräben zu verstecken, wobei sie Gebäude mieden, denn diese wurden eines nach dem anderen niedergebrannt.
Erst am Morgen zuvor wären sie beinahe der geballten Fey-Armee, die aus Jahn herausmarschiert kam, in die Hände gelaufen. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Fey marschierten in die Richtung der Scheune, die Luke zerstört hatte. Luke hatte nichts gesagt. Sein einziger Gedanke war, sich und damit auch Con zu retten. Es war ihnen gelungen, sich zu verstecken. Die Fey schienen auch nicht direkt nach zwei umherziehenden Inselbewohnern Ausschau zu halten. Offensichtlich hatte man ihnen befohlen, alles zu vernichten, was ihnen in den Weg kam.
Mehr als einmal waren sie von ein paar Fey gesehen worden, die auch gemerkt haben mußten, in welche Richtung sie unterwegs waren. Con meinte, es sähe fast so, als wollten die Fey einige Inselbewohner entkommen lassen, damit sie
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