Fey 10: Das Seelenglas
Felsbrocken, an einem provisorischen Lazarett vorbei in Richtung der neu eingetroffenen Truppen. Die Kämpfer, meist Fußsoldaten und Tierreiter, waren mit einer Effektivität dabei, ein Lager aufzubauen, wie es Licia in den letzten Tagen nicht mehr gesehen hatte. Mitten unter ihnen stand ein Mann, eine große, schlanke und vertraute Gestalt.
Der Schwarze König.
Sie hatten ihn ohne ihr Wissen hereingeschmuggelt. Kein Wunder, daß Kendrad sie nicht aufgesucht hatte. Kendrad sollte diese Schlacht keineswegs lenken.
Das würde der Schwarze König persönlich tun.
Er trug einen ähnlichen Umhang wie sie, lang und schwarz und wallend. Er verhüllte seine andere Kleidung. An den großen Händen trug er Handschuhe, an den Füßen maßgeschneiderte Stiefel, denen kein Stäubchen Schmutz anzuhaften schien. War er mit der Truppe zu Fuß gegangen? Ihr war keine Kutsche aufgefallen.
Dann fiel ihr Blick auf die Falkenreiter, die sich rings um eine Vorrichtung scharten, wie sie sie nur einmal in ihrem Leben gesehen hatte, und auch damals nur aus der Ferne; damals, an dem Tag, als sie die Blaue Insel erreicht hatten. Sie hatte an Deck gestanden und mit der Hand an der Stirn beobachtet, wie die Falkenreiter den Schwarzen König auf den Gipfel des südwestlichen Ausläufers der Insel getragen hatten.
Jetzt lagerten sie in der nordwestlichen Ecke, so weit wie nur irgend möglich von jenem Ort entfernt.
Die Frau, die Licia hergebracht hatte, ging auf den Schwarzen König zu. Er starrte in die Luft über ihnen und überlegte offensichtlich, wo der beste Platz war, um ein großes Schattenland zu errichten.
»Rugad«, sagte die Frau. »Ich habe dir die Kommandantin gebracht.«
»Ich danke dir, Selia«, sagte er. Seine Stimme klang flach und krächzend, überhaupt nicht so, wie sie Licia in Erinnerung hatte. Sie erinnerte sich an eine Stimme von solcher Kraft, daß sogar ihr Flüstern die Hausgiebel in der Umgebung zum Beben bringen konnte.
Dann drehte er sich um.
Es war der Mann, an den sie sich erinnerte. Sein Gesicht war nicht mehr hübsch, sondern vom Alter zerfurcht und verwittert, als hätte seine Macht seine Gesichtszüge in Stein gemeißelt. Quer über den Hals zog sich eine breite, gezackte Narbe, eine kaum verheilte Wunde – offensichtlich die Wunde, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Kleine Schnitte übersäten seine Haut. Seine Augen waren dunkel und durchdringend und so voller Intelligenz, daß sie allein aus sich heraus lebendig wirkten.
»Du bist Licia?« fragte er. Die krächzende Stimme hörte sich beinahe an, als wäre sie nicht ganz natürlich. Sie kam zwar zwischen seinen Lippen hervor, aber es schien ein Zauber zu sein, eigens geschaffen, um eine Stimme vom Mund eines anderen in seinen zu übertragen. Augenscheinlich war seine eigene Stimme vom Inselkönig beschädigt worden, und dieses Geräusch ersetzte sie. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, aber nicht so, wie sie es erwartet hatte. Sie zitterte nicht vor der Macht seiner Stimme, sondern ihrer Künstlichkeit wegen.
»Ja«, antwortete sie. Auch sie hatte Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Sie verneigte sich kurz, so wie man es ihr beigebracht hatte, wenn sie sich einem Mächtigeren gegenübersah.
»Du hast vor drei Tagen einen Rückzug befohlen.«
»Meine Infanterie wurde regelrecht abgeschlachtet.«
»Von Inselbewohnern.«
»Von Inselbewohnern«, bestätigte sie. »Sie bedienten sich einer unbekannten Magie.«
»Das wurde mir mitgeteilt.« Dann lächelte er. Die Art und Weise, in der das Lächeln sein Gesicht verwandelte und seinen Zügen die gleiche Lebhaftigkeit wie seinen Augen verlieh, irritierte sie. »Die Fey sind nicht daran gewöhnt, daß andere Magie benutzen.«
»Leider nicht«, sagte sie.
»Du sagtest, du wolltest deiner Truppe diese Schwäche austreiben, damit alles besser verläuft, wenn wir zum zweiten Angriff blasen. Hast du das getan?«
Sie holte tief Luft. »Das wird sich in der Schlacht erweisen.«
»Ich bin nicht bereit, meine Ersatztruppen mit Versagern in die Schlacht zu schicken«, entgegnete er.
»Sie sind keine Versager!« widersprach sie.
Sein Lächeln wurde breiter. Er hatte wissen wollen, ob sie zornig werden konnte. Jetzt wußte er es. »Noch nicht.«
»Niemals«, sagte sie. »Meine Leute stehen bereit.«
»Um die Inselbewohner zu vernichten?«
»Wozu sonst?«
Sein Blick bohrte sich in ihren. Sie war überrascht, wieviel Macht ein so einfacher Blick ausüben konnte. »Du hast Ay’Le
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