Fey 10: Das Seelenglas
darin, den Stadtleuten eine neue Art der Unbarmherzigkeit beizubringen.
Pausho hatte nichts gegen diese Unbarmherzigkeit einzuwenden. Sie wehrte sich dagegen, das Wissen der Weisen mit ihnen zu teilen. Sie hatte ihr ganzes Leben im Dienst eines Augenblicks verbracht, von dem sie geglaubt hatte, er würde niemals kommen. Und jetzt, da er eingetroffen war, präsentierte er sich so ganz anders als alles, was sie sich darunter vorgestellt hatte.
Hatte der Roca so etwas erwartet? Hatte er das alles vorausgesehen?
Und wenn ja, warum hatte er darauf bestanden, all sein gesammeltes Wissen zu vernichten?
Darauf wußte sie eine Antwort. Sie kannte sie tief in ihrem Herzen, und auch darüber wollte sie nicht nachdenken. Aber es stand in den Worten. Es stand dort, ganz am Anfang.
Der Roca war ein Mensch. So fehlbar wie sie selbst. Und er war der erste, soweit sie wußte, der diese Höhle entdeckt hatte. Als er schließlich begriff, was er da über sein Volk gebracht hatte, wollte er alle vernichten, doch da war es natürlich bereits zu spät gewesen.
Damals hatten die Warnungen vor den Langen ihren Anfang genommen, die Bestrebungen, alle Formen von Magie zu unterdrücken. Es war sogar der Ursprung von fast allem, was der Tabernakel als Religion angesehen hatte. Sie hatten die Warnungen des Roca als Mahnung vor einer bestimmten Art von Leuten ausgelegt und diese Mahnungen in eine Macht verwandelt, mit der sie ihr eigenes Volk in Schach hielten.
Auf einmal schien alles so klar zu sein.
Diese neuen Langen – die Langen, die über das Meer gekommen waren – waren das, was ihr Volk hätte werden können, hätte es sich nur ein bißchen anders entwickelt – und wenn der Wille des Roca diese Kräfte nicht unterdrückt und von der Mehrheit der Inselbewohner ferngehalten hätte.
Sie schob sich zwischen den Schwertschmieden zu einer Gruppe jüngerer Frauen hindurch, die damit beschäftigt waren, Ota-Blätter zu kochen. Der typische durchdringende Geruch stieg auf, trübe und brackig. Ota-Blätter schmeckten herrlich, ob gekocht oder ungekocht, aber ihr Gestank war beinahe unzumutbar. Man hatte einen Tisch für das Fest des Lebens aufgebaut, aber ebenso wie Matthias wußte auch sie nicht, inwiefern das hilfreich sein sollte.
Es gab nur einige wenige andere Dinge, die ihnen helfen konnten. Eines waren beschwörende Gesänge wie der, den sie bereits eingesetzt hatte. Das andere war eine Macht, die sich ein wenig von derjenigen unterschied, die die Weisen für sich selbst behalten hatten. Darauf würde sie nur im Notfall zurückgreifen.
Die anderen Weisen hielten sich in der Mitte des Marktplatzes auf. Aus zwei Gründen wollte sie sie in der Nähe haben. Zum einen wollte sie sie nicht verlieren; sie brauchte ihre Kraft, um dieser Bedrohung zu trotzen, und ihre Intelligenz, um neue Pläne zu schmieden, sollte der ihre fehlschlagen. Der andere Grund war der, daß sie ihrer besonderen Macht bedurfte, um sie mit der ihren zusammenzutun. Allein in ihrer Zahl lag eine gewisse Stärke.
Sogar nach Tri hielt sie Ausschau. Sie hatte ihn aus dem Kreis der Weisen verbannt, aber er wußte immer noch viel von dem, was sie taten, und sie war sicher, daß er jetzt mit ihnen zusammenarbeiten würde.
Dazu brauchte sie aber eine passende Entschuldigung, und noch wußte sie nicht genau, ob ihr die richtige einfiel. Schließlich hatte er recht behalten, und sie unrecht. Es sah ganz so aus, als hätte er von Anfang an gewußt, daß Matthias nicht zu denen gehörte, vor denen sie sich in acht nehmen mußten. Er hatte gewußt, daß Matthias ihnen helfen würde.
Matthias … Sie ballte die Faust vor dem Magen. Ihre Übelkeit kehrte zuverlässig zurück, sobald sie an ihn und das goldene Licht dachte, das ihn umfangen hatte. So wenige nur trugen das Blut des Roca in sich, selbst nach den vielen Generationen, die seither entstanden waren. So viele vom Stamm des Roca, aus der Linie seines zweiten Sohnes, waren gestorben, daß es ihnen beinahe gelungen wäre, diese Linie auszulöschen. Einige wenige waren jedoch übriggeblieben.
Matthias war übriggeblieben.
Sie hatte ihm gesagt, daß sie nicht wollte, daß er in die Höhle des Roca ging, aber insgeheim war sie froh, daß er sich ihrem Wunsch widersetzt hatte. Er hatte recht behalten; ihr Volk hätte niemals auf ihn gehört, und er hätte sie in die falsche Richtung gezogen. Seit sie aus dem Gewölbe zurückgekommen waren, hatte sie sich kaum mehr konzentrieren können, aber schlimmer noch wäre es
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