Fey 10: Das Seelenglas
Ratten fluteten wie ein pelziger Fluß auf die offenstehenden Türen zu und lachten schadenfroh, als sie dahinter verschwanden. Direkt auf der Türschwelle erkannte sie in Inselbewohnerstiefel gekleidete Füße – Füße, die sich nicht bewegten.
Die Ratten kletterten darüber hinweg.
Sie drückte die Hand gegen den Magen, in dem sich Übelkeit breitmachte. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Rattenwesen. Hundewesen mit Fey auf den Rücken. Sie waren erbarmungslos.
Sie töteten die Lebenden und fraßen die Getöteten auf.
Die Weisen hatten sich in der Versammlungshalle aufgehalten.
Sie hoffte nur, daß Matthias bereits weggegangen war. Zum ersten Mal hoffte sie, daß er sich durch das Gewölbe auf den Weg gemacht hatte, hinauf in die Berge, und sie hoffte, daß der Pfad, den er ihr einmal beschrieben hatte, ein Tunnel war, den sonst niemand fand.
Sie erschauerte, machte die Tür aber noch nicht zu. Die Ratten mieden sie und strömten wie auf einen geheimen Befehl hin unbeirrt zur Versammlungshalle. Dann sah sie all die Vögel über die Stadt fliegen. Vögel …
Sie hielten genau auf die Stadtmitte zu, dort, wo die Blutklippler an den Schwertern, den Glaskugeln und den anderen Gerätschaften arbeiteten, die sie, laut Matthias’ Worten, retten würden.
Vögel, die mit der gleichen Zielgerichtetheit flogen, mit der auch die Ratten vorzugehen schienen. Marly war davon überzeugt, daß sie auf den Vogelrücken ebenfalls winzige Fey entdecken würde, könnte sie die Rücken nur sehen.
Vögel.
Ratten.
Kleine Wesen.
Kreaturen, die von den ungeübten Städtern unbemerkt in eine Stadt schleichen konnten.
Wieder lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Auch sie war nicht für einen Kampf mit den Fey gerüstet. In Jahn hatte sie nur aufgrund von Yaseps Planung überlebt, und anschließend, weil Matthias darauf bestanden hatte, daß sie die Stadt verließen.
Yasep hielt sich in der Stadtmitte auf. Matthias war weg. Sie arbeitete allein im Krankenhaus.
Sie tastete nach der Tür hinter sich, schob sich daran vorbei und drückte sie zu. Bislang war noch keines dieser Viecher eingedrungen.
Aber das war nur eine Frage der Zeit.
Sie mußte ein Mittel finden, um sich zu schützen. Sie holte tief Luft und ließ den Blick über die verbliebenen Verwundeten wandern. Sie waren ausnahmslos zu schwach, um die Betten zu verlassen, und in jedem Fall nicht in der Lage, sich zu verteidigen.
Aber sie würden tun, was sie konnten. Marly hatte mehrere Messer, das Schwert, das Matthias ihr gegeben und beteuert hatte, es würde sie beschützen. Dazu eine jener Glaskugeln, die Jakib mitgebracht und Marly angefleht hatte, sie erst dann zu berühren, wenn sie sie wirklich brauchte. Und sie hatte sich selbst.
Sie ballte die Fäuste und verschränkte die Arme über der Brust. Schon vor Jahrzehnten hatte ihre Mutter ihr einen kleinen Schutzzauber beigebracht. Er sei über Generationen heimlich in der Familie weitergegeben worden, hatte ihre Mutter gesagt. Sie hatte Marly schwören lassen, ihn niemandem außer ihren eigenen Kindern beizubringen und nur in allerhöchster Not anzuwenden.
Marly hatte ihn noch nie zuvor angewendet.
Jetzt war es soweit.
Es bedurfte all der Kräfte, die sie herbeirufen konnte, selbst wenn es nur die Kräfte ihrer eigenen Überzeugung waren.
25
Er watete in Blut.
Denl hielt in einer Hand das Schwert, in der anderen ein Messer. Das Messer streckte er eher aus Gründen des Gleichgewichts von sich und benutzte es nur selten. Das Schwert tat genau das, was Matthias vorausgesagt hatte: Es war ein magisches Instrument, das alles in Stücke schnitt, womit es in Berührung kam.
Denl benutzte es dazu, die Fey, die sich ihm entgegenwarfen, in Stücke zu schneiden.
Dutzende und Aberdutzende von ihnen, vielleicht sogar Hunderte, hatten sich über die Hügel ergossen und waren im Gleichschritt auf sie zugestürmt. Einige waren von Pfeilen niedergestreckt worden, andere bei den ersten Tönen des beschwörenden Singsangs stehengeblieben.
Er hörte den Gesang kaum noch.
Weiche.
Weiche.
Weiche.
Aber diesmal war er nicht gegen ihn oder Matthias gerichtet. Er richtete sich gegen die Fey. Die Klippenbewohner, die gruppenweise hinter ihm standen, so wie sie vor der Schlacht von Pausho zusammengestellt worden waren, sangen mal leise, mal aufbrausend und wußten, daß ihre Worte keine mindere Wirkung auf den Feind hatten als die Schwerter, die Matthias entdeckt hatte, oder die Pfeile, die
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