Fey 10: Das Seelenglas
hier? Weigerst dich, dein Schicksal zu erfüllen? Willst statt dessen diejenigen retten, für die keine Hoffnung mehr besteht?«
Matthias sagte nichts. Es gab nichts mehr zu sagen, absolut nichts. Er weigerte sich einfach, die Spielchen dieses Mannes noch länger mitzuspielen.
Der Mann seufzte. Plötzlich sah er beinahe jämmerlich aus. »Wie soll ich ihn führen, wenn er sich nicht von der Stelle rührt?«
Dann wirbelte Nebel rings um Matthias, so viel Nebel, daß die ganze Höhle weiß davon war, weiß und kalt. Er fühlte, daß da jemand in dem Nebel war, hörte leise Stimmen, spürte die Berührung der klammen Feuchtigkeit.
- Du hast diesen Pfad gewählt, sagte eine Stimme.
- Deine Familie hat ihn gewählt, schon vor Jahrhunderten.
- Du mußt ihn gehen.
- Wir haben es deinem Bruder versprochen -
- Deinem Vetter -
- All deinen Verwandten -
Die letzten Worte schienen alle in eins zu verschwimmen.
- Du mußt zur Höhle gehen.
Er sagte nichts. Er saß einfach nur da und wunderte sich über die Stimmen. Diese Erscheinungen waren eine Art von Wahnsinn, den sein eigener Geist hier drinnen im Berg hervorgerufen hatte. Vielleicht hatten die Worte des Roca doch recht, und jeder, der mit Matthias’ Fähigkeiten ausgestattet war, wurde früher oder später verrückt.
Vielleicht.
- Nicholas haßt dich, Matthias.
Diese Stimme kannte er. Sie sprach in der Inselsprache, aber mit einem Fey-Akzent. Der Nebel um ihn herum wurde frostiger.
Die Schamanin.
- Er macht dich – und das zu Recht – für Jewels Tod verantwortlich.
Matthias schlang die Arme fest um sich, aber jetzt mehr, um sich zu schützen, denn aus Wut.
- Er macht dich für sein Versagen, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Inselbewohnern und den Fey zu schlichten, verantwortlich. Er kreidet dir Hunderte von Toten an. Und auch damit hat er recht.
»Du bist tot«, sagte Matthias. »Ich habe gesehen, wie du starbst.«
- Und ich wurde das, was mein Volk als Macht bezeichnet. Das widerfährt nur denen, die einen ehrenwerten Tod gestorben sind. Ich starb, um dich zu schützen.
»Hört sich an, als hättest du lieber mich sterben lassen.«
- Du hast die Fähigkeit, deine Vergehen ungeschehen zu machen. Wie vielen Menschen ist das gestattet?
»Ich kann Jewel wieder zum Leben erwecken? Die Zeit zurückdrehen?«
- Nein. Aber du kannst diesen schrecklichen Krieg beenden. Und mehr noch. Du kannst das Verlangen der Fey, immer mehr und mehr zu erobern, zum Erlöschen bringen. Dazu mußt du weitergehen.
»Wie denn?«
- Die Zukunft verzweigt sich, Matthias. Wenn du umkehrst, löst du damit überhaupt nichts. Wenn du weitergehst, stehen dir viele Möglichkeiten zur Hilfe offen.
»Er« – Matthias nickte zu dem Mann, obwohl er ihn nicht sehen konnte – »er sagte, ich werde hier sterben.«
- Das könnte geschehen.
»Wie kann ich dann helfen?«
- Manchmal ist der Tod eine erhabene Angelegenheit.
»Und manchmal ist er einfach nur dumm«, erwiderte Matthias.
- Genau wie die Halsstarrigkeit.
»Ich will wissen, ob meine Freunde am Leben bleiben«, sagte Matthias.
- Dabei kannst du ihnen nicht helfen. Du kannst nicht zurück und sie retten.
»Ich will es wissen«, sagte er.
- Wenn wir es dir zeigen, wenn wir den Schleier mit einer Offenen Vision lüften, dann mußt du es glauben. Du mußt weitergehen.
»Dann gehe ich weiter.«
»Das hast du auch gesagt, als ich dir versicherte, daß deine Freunde beschützt werden«, ertönte die etwas verbitterte Stimme des Mannes.
»Ich hatte keine Garantie dafür«, sagte Matthias.
»Es gibt keine Garantien im Leben«, erwiderte der Mann.
»Außer der, daß wir sterben müssen«, sagte Matthias.
»Ist das garantiert?« fragte der Mann. »Oder nur eine Überzeugung unsererseits?«
»Bitte«, sagte Matthias, der diese Art von Unterhaltung nicht mehr weiterfuhren wollte. Er mußte etwas unternehmen, entweder weitergehen, wie es diese Stimmen von ihm verlangten, oder umkehren, wozu ihn die Stimme seines Herzens drängte. »Bitte zeige es mir. Hilf mir.«
- Du mußt Vertrauen haben.
Das war nicht die Schamanin. Die Stimme gehörte dem Fünfzigsten Rocaan, und Matthias war nicht sicher, ob sie aus seiner Erinnerung kam oder von jenen Wesen im Nebel.
»Ich kann das Leben anderer nicht von meinem Vertrauen abhängig machen.«
- Warum nicht?
»Bitte«, sagte er noch einmal und erhob sich vor Verzweiflung auf die Knie. »Bitte. Ich liebe sie zu sehr.«
- Liebe, Matthias? Dieses Wort hast du noch nie
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