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Fey 10: Das Seelenglas

Fey 10: Das Seelenglas

Titel: Fey 10: Das Seelenglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristine Kathryn Rusch
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ausgesprochen.
    »Bitte«, flüsterte Matthias.
    Der Nebel lichtete sich, bildete einen Kreis, und durch den Kreis hindurch sah er Marly über ein Kinderbettchen gebeugt, in dem zwei Neugeborene lagen. Zwillinge. Sie sah älter aus, schmaler – nein, es lag nicht am Alter. Traurigkeit hatte sich in ihr Gesicht gegraben, eine beinahe unerträgliche Traurigkeit. Sie redete beruhigend auf die Kinder ein. Dann verblaßte das Bild, und ein anderes erschien. Tri an der Tür zum Gewölbe. Er lehnte sich dagegen, als schützte er sie. Sein Gesicht und seine Hände waren von kleinen weißen Narben entstellt. Sie sahen wie Bißwunden aus.
    Dann verwehte auch dieses Bild, und Matthias sah Denl auf der Schwelle seines, Matthias’, Hauses sitzen und in die Berge blicken. Neben ihm lagen Krücken, und eins seiner Hosenbeine war umgeschlagen und festgeheftet. Er hatte ein Bein verloren, aber er lebte.
    Sie lebten alle.
    Matthias atmete tief durch. Er verspürte eine Traurigkeit, den Widerhall des Gefühls, das er auf Marlys Gesicht gesehen hatte. Was konnte er ausrichten, wenn er umkehrte?
    Der Roca hatte gesagt, an diesem Ort gäbe es Dinge, die sich jeder Erklärung entzogen.
    Er stand auf, ohne das Seil zu Hilfe zu nehmen. Immer noch wirbelte der Nebel um ihn herum, aber er hob sich nicht mit ihm. Als er über ihm stand, sah er das unheimliche rote Licht und den Tunnel, der sich vor ihm ausdehnte – bis hin zu seinem Schicksal und vielleicht sogar zu seinem Tod.
    Sich selbst hatte er in keiner dieser Zukunftsvisionen gesehen.
    Andererseits hatte er nicht darum gebeten.
    »Na schön«, sagte er. »Ich gehe weiter.«
    Aus dem Nebel bildete sich eine Ranke. Sie berührte sein Gesicht und fiel dann in den Wirbel zurück.
    - Du wirst deine Entscheidung nicht bereuen, mein Sohn.
    Der Fünfzigste Rocaan. Matthias’ Herz zog sich zusammen. Der alte Mann täuschte sich. Matthias würde sie bereuen, solange er lebte.
    Er bereute sie schon jetzt.

 
28
     
     
    Kurz bevor er das Stadtzentrum erreicht hatte, hatten sie sich auf ihn gestürzt. Tri hatte sich beeilt, und er hatte keine weiteren Ratten gesehen. Aber er hatte Vögel gesehen. Hunderte von Vögeln.
    Und dann hatten sie sich schreiend und kreischend auf ihn geworfen, mit den Schnäbeln nach seinem Gesicht, nach seinen Augen gehackt. Er hatte die Arme über den Kopf gelegt, aber es half nicht viel. Er spürte das Blut über seinen Körper rinnen, und er wußte, daß er sterben würde.
    Dann sah er die Ratten, nein, er spürte sie eigentlich. Sie kletterten an ihm empor, bissen ihn und riefen sich etwas in einer fremden Sprache zu.
    Wie war es möglich, daß Ratten sprechen konnten?
    Tri widerstand dem Impuls, sie wegzuschlagen, denn er mußte mit den Händen sein Gesicht schützen. Die Schnäbel waren in seinen Haaren, pickten in seine Kopfhaut, in seine Wangen. Der Schmerz war ungeheuerlich. So etwas hatte er noch nie verspürt. Er schüttelte die Beine, konnte die Ratten aber nicht abschütteln. Er fing an zu rennen, stolperte und fiel hin, und dann waren sie über ihm.
    Er wußte in diesem Augenblick, daß er sterben mußte, und zwar einen langsamen, qualvollen, häßlichen Tod, und er wünschte, er hätte ein besseres Leben geführt und wäre der Mann gewesen, der er eigentlich hatte sein wollen, wünschte …
    Mit einem Male bemerkte er, daß der Schmerz, den er spürte, ein nachhallender Schmerz war, ein anhaltender Schmerz, aber kein neuer Schmerz. Nichts rührte ihn mehr an. Aber er blutete immer noch, war beinahe überall dort, wo nackte Haut sichtbar war, und auch an manch anderer Stelle, von Wunden bedeckt.
    Langsam und mißtrauisch hob er den Arm von den Augen und sah nichts als blendendes Weiß.
    Also hatten sie ihn geblendet, und es war für seinen Verstand zu gräßlich gewesen, um es wahrzunehmen. Er sah immer noch, aber er sah nichts.
    Bis auf seinen eigenen blutenden Arm.
    Die weiße Helligkeit umgab ihn, schützte ihn, umhüllte ihn wie ein Kokon, aber sie milderte seinen Schmerz nicht. Die Schmerzen wurden sogar stärker. Die Ratten hatten von ihm gelassen, und auch die Vögel ließen ihn in Ruhe, obwohl er sie nach wie vor kreischen hörte.
    Er glaubte, aus dem kühlen Weiß flüsternde Stimmen zu hören.
    Mit dem Segen des Roca.
    Bedanke dich bei deinem Freund Matthias.
    Jetzt schuldest du der Zukunft etwas.
    Einige der Stimmen sprachen nicht zu ihm, sondern unterhielten sich untereinander.
    Wir sollten uns nicht einmischen.
    Schon vor Jahrhunderten haben

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