Fida (German Edition)
hatte er sie nicht herausgefischt.
Sie tritt in die Duschkabine, dreht das warme Wasser auf und stellt sich unter den harten Strahl. Ein paar Minuten lang genießt sie die nassen Strahlen, die auf ihren Kopf prasseln, das Gefühl des Wassers, das an ihrem Körper entlangrinnt und den Nachtschweiß sowie ihre trüben Gedanken hinwegspült. Als sie wieder aus der Kabine steigt, hängt Wasserdampf in der Luft, sammelt sich in Tropfen am Milchglasfenster und beschlägt den Spiegel. Sie trocknet sich ab, greift zur Zahnbürste und putzt sich die Zähne, während sie mit der anderen Hand den Spiegel freiwischt. Zum ersten Mal seit langem, mit wachem Auge, mustert sie eingehend ihr Spiegelbild. Ein leises Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, obwohl ihr nicht gefällt, was sie sieht. Sie lächelt, weil sie heute erstmals den inneren Antrieb verspürt, der nötig ist, um diesen Tag nicht ebenso traurig und eintönig verstreichen zu lassen, wie die vorangegangenen. Später wird sie in die Stadt fahren, beschließt Tatjana, während sie sich ansieht. Ohne die Belastung, die sie sonst begleitet. Heute nimmt sie keine Plakate mit, wird keine fremden Menschen ansprechen. Endlich wird sie etwas nur für sich selbst tun. Sie möchte ihrem Äußeren etwas von der Frische verleihen, die sie an diesem Tag empfindet. Sie nimmt eine Bürste, kämmt die nassen, verknoteten Strähnen, bis das Haar glatt ist und schimmernd glänzt. Doch weniger grau wird es dadurch auch nicht. Ein paar unschöne, graue Strähnen durchziehen inzwischen ihr dunkles Haar, besonders an den Schläfen. Eine Haartönung, überlegt sie, könnte sie sich kaufen. Ja, mit etwas Farbe wird sie wieder viel jünger aussehen. Tatjana verspürt das Verlangen, sofort etwas an sich zu verbessern und greift zu der Wimperntusche, die sie seit einer Ewigkeit nicht mehr angerührt hat. Als sie das Bürstchen herauszieht, sieht sie, dass die daran hängende Farbe schon ganz eingetrocknet und klumpig aussieht. Seufzend wirft sie die Mascara in den kleinen Mülleimer unter dem Waschbecken.
Während ihr Haar trocknet kocht sie sich einen Kaffee, zieht sich an, nachdem sie ihn getrunken hat. Ihre Wahl fällt auf eine luftige, bunte Bluse und eine Jeans, die sie seit einer Ewigkeit nicht mehr getragen hat. Seit einer ganzen Weile erschien ihr schwarze oder graue Kleidung irgendwie angemessener. Doch damit ist jetzt Schluss! Jochen hat Recht, sie kann nicht ihr ganzes Leben lang Trauer tragen.
Eine Weile später, nach einem weiteren Kaffee, macht sie sich auf den Weg in die Stadt. Heute läuft sie nicht viele Straßen weiter, sondern geht direkt zur nächstgelegenen Haltestelle. Mit dem Bus fährt sie vorbei an den Stellen, an denen sie gewöhnlich ihre Plakate aufhängt, vorbei an dem öden Grundstück mit dem verlassenen Haus, dessen Anblick sie oft melancholisch und traurig stimmt. Sie wendet leicht den Kopf ab, als sie sich ihm nähern und als sie wenige Atemzüge später wieder durch das große Panoramafenster hinausschaut, sind sie schon daran vorbeigefahren. Die blicklosen, mit Latten vernagelten Fenster starrten dem Bus hinterher.
Als sie an der Bücherei vorbeifahren, spürt sie einen Stich in der Brust. An diesem Ort wurde ihre Tochter nachweislich zum letzten Mal lebend gesehen.
***
9. März 2012
Kurz nachdem Laura Wenz verschwand, brachte die Zeitung einen Bericht über das vermisste Kind und rief die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Noch am selben Tag meldete sich eine Zeugin bei der Polizei, eine Bibliothekarin, die angab, das Mädchen am Abend ihres Verschwindens gesehen und etwas möglicherweise Bedeutsames beobachtet zu haben. Ein Abgleich mit dem Computer der Leihbücherei, in der sie arbeitete, bestätigte diese Aussage. Laura hatte sich am Tag ihres Verschwindens dort ein Buch ausgeliehen. Adelheid Stemmler brachte die Ermittler auf eine erste heiße Spur.
Sofort schickte man ein paar Streifenwagen los. Anton Wacholski wurde zu einer Zeugenbefragung auf die Wache gebracht. Neben den Beamten von der Kriminalpolizei war auch Polizeihauptmeister Likar, der als erster mit dem Fall in Berührung kam, bei der Befragung anwesend. Schon bei flüchtiger Betrachtung hielt er den Zeugen für verdächtig. Welcher Mann verbrachte denn „einfach so“ viel Zeit in der Bücherei, las dort kleinen Kindern vor und nannte sich obendrein „Opa Anton“?
Pädophile benutzen oft solche Wege, treten in Sportvereine ein, engagieren sich gemeinnützig zum vermeintlichen
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