Fida (German Edition)
Zentrum der kleinen Stadt. Die wenigen Minuten, die die Fahrt noch dauert, versucht Tatjana sich von den Gedanken an Laura und die Ermittlungen zu befreien. Sie will nicht in ihre Traurigkeit zurückfallen, als wäre sie ein großes schwarzes Loch mit hoher Anziehungskraft. Darum betrachtet sie jede Rabatte mit blühenden Herbstblumen, an der sie vorbeifahren und liest die Werbeplakate an einer Litfaß-Säule neben einer Ampel, an der sie anhalten. Am Busbahnhof steigt Tatjana aus, läuft durch die Innenstadt und sieht sich die Auslagen der Läden an, denen sie zu lange keine Beachtung schenkte. Eigentlich schön, die bunte Sommermode, die schon überall aushängt. Ein Teil ihres alten Selbst, der Frau die sie mal war, scheint wieder erwacht zu sein. Woran das liegt, weiß sie selbst nicht, aber sie versucht sich daran zu erfreuen. Früher war sie unternehmungslustig, voller Lebensfreude, hatte Hobbys und Freunde. Sie hatte wenig gemein gehabt, mit dieser traurigen, alten Frau, die ihr in letzter Zeit aus dem Spiegel entgegenblickte.
Ihre Freunde, anfangs natürlich besorgt an ihrer Seite, hatten sich zunehmend distanziert. Tatjana weiß, dass sie selbst daran nicht ganz unschuldig ist, denn ihre Trauer nahm so viel Raum ein, dass für andere Menschen immer weniger Platz blieb.
Zuerst verschwanden die ohnehin flüchtigen Bekannten. Tatjana nahm es ihnen nicht einmal sonderlich übel. Sie mochte die peinlich berührte Sprachlosigkeit, die daher rührte, dass es einfach keine passenden oder angemessenen Worte gab, genauso wenig, wie die mitleidigen Floskeln. Oder – noch schlimmer – die aufmunternden Worte, mit denen Einige versuchten ihr Mitgefühl auszudrücken.
Einen ihrer ältesten Freunde jagte sie regelrecht zum Teufel, nachdem er sein Bedauern so formulierte, als wäre Laura nicht nur verschwunden, sondern schon tot. Doch inzwischen ließ sich nicht mal mehr ihre vormals beste Freundin besonders oft bei ihr blicken. Auch Jutta hatte sie im letzten Jahr oft genug vor den Kopf gestoßen und inzwischen hatte sie ihre Versuche eingestellt, Tatjana aus ihrem mentalen Loch zu ziehen.
Tatjana denkt an Jochen. Ihr ist bewusst, dass sie auch ihn immer mehr zurückstieß und hofft, dass er positiv überrascht sein wird, wenn ihn heute Abend eine Frau erwartet, die ein wenig mehr der gleicht, die er vor vielen Jahren heiratete. Er hat Recht, sie darf nicht ständig nur zurück schauen. Hoffentlich gefällt ihm die Veränderung, entlockt ihm ein Lächeln und ein Kompliment - vielleicht nimmt er sie dann auch wieder wahr.
Tatjana betritt den großen Drogeriemarkt im einzigen und somit größten Einkaufszentrum der Stadt und sieht sich suchend darin um. Sie braucht beinahe zehn Minuten, um sich im bunten Sortiment für eine Wimperntusche zu entscheiden. Danach steht sie unschlüssig vor dem Regal mit den Haarfarben. Welche soll sie nehmen? Weitere Minuten verstreichen und sie ist so auf diese Frage konzentriert, dass ihr gar nicht auffällt, dass einer der Angestellten zu ihr hinsieht und sie schon eine Weile beobachtet. Schließlich tritt er neben sie, greift ins Regal und zieht einen warmen Braunton hervor, mit einem leichten Stich ins rötliche.
„Diese Farbe hier würde Ihnen, glaube ich, sehr gut stehen.“ Auffordernd hält er ihr die Packung hin. Überrascht sieht Tatjana zu ihm auf und stutzt. Er kommt ihr vage bekannt vor.
„Danke!“, erwidert sie zaghaft, während sie zugreift und die Farbe mustert. Dann schaut sie den Verkäufer genauer an. Sie hat ihn schon mal gesehen, er kommt ihr bekannt vor - aber wo?
„Ein schöner Farbton“, bedankt sie sich und hakt dann nach: „Kennen wir uns irgendwoher?“
Ein seltsamer, leicht gequälter Ausdruck huscht über sein Gesicht und da fällt bei ihr der Groschen: Neulich im Park, der Mann, der einen Moment lang so wirkte, als wolle er etwas sagen… das war er!
Kapitel 8
6. März 2012
Das Mädchen im Keller begann zu schreien und riss Tom aus seinen Gedanken. Er hörte ihre spitzen, panischen Schreie, gedämpft durch die Tür. Wurde auch Zeit, dass sie endlich zu sich kam! Ein Grinsen schlich sich in sein Gesicht, während er seine Zigarette auf dem Boden ausdrückte. Dann stand er auf und ging zur Hintertür, deren Scharniere seufzten und ächzten. Er öffnete sie einen Spalt breit, gerade weit genug um hinaus zu schlüpfen und umrundete das Haus. Vor den Kellerfenstern hielt er inne und lauschte. Außer dem Pfeifen des Windes und dem
Weitere Kostenlose Bücher