Fida (German Edition)
dir!“
Kapitel 22
25. Juni 2012
Heute dauerte alles länger. Wolfgang war wieder mal viel zu früh wach und starrte aus dem Fenster. Er sah die Sonne aufgehen und war nicht überrascht, als er kurz darauf hörte, wie seine Tür aufging. Eine Pflegerin kam kurz ins Zimmer, zog prüfend die Luft ein, warf einen kontrollierenden Blick auf ihn und eilte wieder hinaus.
„ Ja, ich bin noch am Leben, du blöde Gans!“, maulte er ihr mit den Augen hinterher. „ Und eingeschissen habe ich auch nicht, falls du deshalb geschnüffelt hast, wie ein Schwein auf Trüffelsuche. Damit warte ich, bis die Susi kommt!“ Diese hier, Beate Fröhlich, konnte er nicht leiden. Nur weil er nicht antworten konnte, schien sie es nicht für nötig zu halten, höflich und respektvoll mit ihm umzugehen. Nicht mal ein „Guten Morgen!“ hatte sie für ihn übrig gehabt. Ihr Name war glatt gelogen.
Wolfgang war ohnehin nicht bester Laune an diesem Tag, doch sie verschlechterte sich weiter, als auch sein Frühstück von dieser unfreundlichen Ziege gebracht wurde. Darüber hinaus viel zu spät, wie er missmutig bemerkte. Beate fertigte ihn rasch ab, lieblos und ungeduldig. Drängte ihn, schneller zu schlucken. Wolfgang vermisste Susanne, das junge Ding im sozialen Jahr, die ihn sonst immer fütterte. Susi war meistens gut gelaunt – und sie sprach mit ihm, während sie ihm zu essen gab, plauderte fröhlich auf ihn ein und gestaltete das Essen unterhaltsam. Ohne auch nur anzurufen, erfuhr er durch das Gemecker der Ziege, war sie heute nicht zum Dienst erschienen. Obendrein waren noch zwei Andere krank und hatten abgesagt.
„Acht Hände sollte man haben, nicht zwei. Und dann wären es immer noch zu wenig!“, ließ Beate ihren Frust ab, während sie Wolfgang einen weiteren gehäuften Löffel in den Mund stopfte. Wolfgang schluckte, doch ein Teil des Breis kam wieder heraus. Mit dem Löffel nahm Beate auf, was ihm seitlich an den Mundwinkeln wieder herauslief und beförderte es mit einem „Brav runterschlucken!“ zurück in den Mund.
Dann rümpfte sie die Nase. Ja, sie hatte richtig gerochen. Inzwischen musste seine Windel gewechselt werden. Dieses Wissen und der unangenehme Geruch führten dazu, dass sie es auf einmal noch eiliger hatte. Kaum hatte Beate Wolfgang den letzten Löffel verabreicht und überprüft, dass er auch alles geschluckt hatte, schnappte sie sich das Geschirr und verkündete beim eiligen Verlassen des Raumes: „Ich schicke gleich jemanden, der sie sauber macht.“
„Gleich“ erwies sich als dehnbarer Begriff. Vielleicht hatte sie es vergessen, oder auch die anderen Pflegekräfte waren überlastet, doch eine halbe Stunde später war noch immer niemand gekommen, um diese Ankündigung in die Tat umzusetzen. Wolfgang stank es, und zwar gewaltig.
Weitere 20 Minuten, gefühlt noch viel mehr Zeit, mussten vergehen, bevor die unfreundliche Beate wieder die gerümpfte Nase ins Zimmer steckte und ihn, mit gewohnter Ungeduld und offen zur Schau getragenem Unmut, doch selbst sauber machte.
Die Verspätungen im Zeitplan zogen sich durch den Tag. So verwunderte es Wolfgang auch nicht sonderlich, als in etwa zur Abendessenszeit nicht das Essen kam, sondern Thomas. Den ganzen Tag hatte er nichts anderes zu tun gehabt, als sich aufzuregen und darauf zu warten, hektisch abgefertigt zu werden. Keiner seiner Tage war großartig, doch der heutige war im negativen Sinn kaum zu überbieten. Dieser Besuch rundete den Tag ab.
„Na, alter Mann, wie geht’s dir?“, eröffnete Thomas das Gespräch. „Lang nicht mehr gesehen!“
Das stimmte. Die letzten Tage hatte Thomas sich erfreulich rar gemacht. Wolfgang musterte ihn aus dem Augenwinkel. Seine Kleidung war staubig und schmutzig, als käme er gerade von einer Baustelle. Erde klebte an seiner Hose, als hätte er den Garten umgegraben. Sein Haar wirkte ebenfalls staubig. Was hatte der Junge wieder getrieben?
Thomas ließ ihn nicht lange raten: „Ich habe ein bisschen was am Haus gemacht. Schien mir nötig.“ Dann beschrieb er ihm ausführlich, was er während der letzten Tage getan hatte. Wolfgang hörte zunächst erleichtert zu. Es war Glück im Unglück – und dafür hatte er inzwischen ein Auge – dass Thomas die Lebensbedingungen in seinem schrecklichen Verlies verbesserte. Als er jedoch den Grund dafür erfuhr und Thomas ihm in allen Einzelheiten schilderte, wie dieses arme, verzweifelte Mädchen sich selbst einen Galgen gebaut hatte, stellten sich ihm vor Entsetzen
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