Fieber
legte er seine Finger genau unter ihre rechten Rippen und forderte sie auf, einzuatmen. Als sie es tat, spürte er die empfindungslose Spitze ihrer Leber unter seinen Fingern vorbeigleiten. Sie sagte, daß es ihr ein bißchen weh getan hätte. Dann stützte er Michelle mit seiner linken Hand und fühlte nach ihrer Milz. Zu seiner Überraschung hatte er keine Schwierigkeiten, sie zu ertasten. Als er noch praktizierte, hatte er bei diesem Versuch immer Probleme gehabt, und er fragte sich, ob Michelles Milz nicht unnatürlich vergrößert war.
Dann stand er auf und sah Michelle an. Sie wirkte abgemagert, aber sie war immer schlank gewesen. Charles ließ seine Hände an ihren Beinen hinuntergleiten, um den Spannungszustand der Muskeln zu fühlen. Als er mehrere Blutergüsse entdeckte, hielt er inne. »Woher sind die vielen schwarzen und blauen Stellen?«
Michelle zuckte die Schultern.
»Hast du Schmerzen in den Beinen?«
»Ein bißchen. Meistens in den Knien und Knöcheln nach der Gymnastik. Aber wenn Cathryn mir einen Zettel schreibt, brauche ich nicht mitzumachen.«
Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, sah Charles seine Tochter noch einmal aufmerksam an. Sie war blaß, hatte verschiedene kleine Schmerzstellen, ein paar Lymphknoten und Fieber. Das konnte alles auf eine kleine unbedeutende Virusinfektion hindeuten. Aber vier Wochen! Vielleicht hatte Cathryn recht. Vielleicht sollte Michelle wirklich einmal zu einem ›richtigen‹ Arzt gehen.
»Bitte, Dad«, sagte Michelle. »Ich kann nicht wieder in der Schule fehlen, wenn ich ein Wissenschaftler werden soll wie du.«
Charles lächelte. Michelle war immer ein frühentwickeltes Kind gewesen, und diese geschickte Schmeichelei war ein gutes Beispiel. »Wenn du ein paar Tage in der Schule fehlst, wird das deiner Karriere nicht schaden«, sagte Charles. »Cathryn wird heute mit dir ins Krankenhaus zu Dr. Wiley fahren.«
»Aber er ist ein Baby-Doktor!« rief Michelle trotzig.
»Er ist Kinderarzt, und er hat Patienten bis zu achtzehn Jahren, meine Liebe.«
»Ich will, daß du mich hinfährst.«
»Ich kann nicht. Ich muß ins Labor. Warum ziehst du dich jetzt nicht an und kommst hinunter zum Frühstück?«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Michelle, sei nicht so störrisch.«
»Ich bin nicht störrisch. Ich hab’ nur keinen Hunger.«
»Du kannst wenigstens etwas Saft trinken.« Charles zwickte Michelle leicht in die Wange.
Michelle sah ihrem Vater hinterher, als er das Zimmer verließ. Von neuem liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie fühlte sich schrecklich und wollte nicht ins Krankenhaus fahren. Was aber am schlimmsten war, sie fühlte sich einsam. Sie wollte, daß ihr Vater sie lieber hatte als alles in der Welt, und sie wußte, daß es Charles störte, wenn eins seiner Kinder krank war. Sie mühte sich hoch, bis sie im Bett saß. Dann legte sie ihre Arme um ihren Körper, als ein Schwindel sie erfaßte.
»Mein Gott, Chuck.« Charles’ Stimme war voller Abscheu. »Du siehst aus wie ein Landstreicher.«
Chuck überhörte seinen Vater. Er holte sich sein Getreidemüsli aus dem Schrank, goß etwas Milch darüber und setzte sich. Zum Frühstück galt, daß jeder sich selbst versorgen mußte, bis auf den Orangensaft, den für gewöhnlich Michelle frisch auspreßte. Heute hatte Cathryn ihn angerichtet.
Chuck trug einen fleckigen Sweater, seine schmutzige Jeans, deren Beine er so lang gelassen hatte, daß er schon auf den ausgefransten Enden ging. Sein Haar war ungekämmt und daß er sich nicht rasiert hatte, sah man überdeutlich.
»Mußt du wirklich so schlampig herumlaufen?« fing Charles noch einmal an. »Ich dachte, der Hippie-Look ist aus der Mode und daß man sich am College wieder anständig anzieht.«
»Du hast recht. Hippie ist out«, sagte Jean Paul. Er kam in die Küche und goß sich ein Glas Orangensaft ein. »Punk ist jetzt in.«
»Punk?« fragte Charles. »Ist Chuck ein Punk?«
»Nein«, lachte Jean Paul. »Chuck ist nur Chuck.«
Chuck sah von seinem Frühstücksmüsli auf und zischte seinem Bruder ein paar Obszönitäten zu. Aber Jean Paul beachtete ihn nicht und schlug einfach sein Physikbuch auf. Ihm war eingefallen, daß sein Vater noch nie bemerkt hatte, was er trug. Es war immer nur Chuck.
»Wirklich, Chuck«, sagte Charles, »meinst du ehrlich, daß du so heruntergekommen aussehen mußt?« Chuck ließ dieFrage unbeantwortet. Mit wachsender Erbitterung sah Charles auf seinen essenden Sohn. »Chuck, ich rede mit
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