Fieber
er die Gewehrmunition und die Kartons mit den Medikamenten im Laderaum des Transporters sicher untergebracht hatte, fuhr er mit dem Wagen zum Weinburger-Institut. Als er auf seine Armbanduhr sah, war es halb fünf. Er überlegte, wie lange er noch warten müßte. Bald würde es dunkel werden.
12. Kapitel
Cathryn stand mit schmerzenden Gliedern auf und streckte sich. Leise ging sie durch Michelles Krankenzimmer zu der offenstehenden Badezimmertür und sah in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Nicht einmal das schwächer werdende Nachmittagslicht konnte verbergen, wie mitgenommen sie aussah. Der Bluterguß, den Charles’ unkontrollierter Schlag ihr am Auge eingetragen hatte, schimmerte jetzt auch auf ihrem unteren Augenlid dunkelblau.
Cathryn nahm einen Kamm, ihr Rouge und einen kleinen Lippenstift aus ihrer Handtasche, ging in das Badezimmer und schloß vorsichtig die Tür hinter sich. Ein bißchen Schminke würde vielleicht auch ihre Stimmung etwas heben. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung ein und sah wieder in den Spiegel. Ihr eigener Anblick ließ sie erschrocken zusammenfahren. Das harte künstliche Licht verlieh ihrer Haut eine kränkliche Blässe und betonte noch ihr dunkel schimmerndes Auge. Aber schlimmer noch als die blasse Farbe war der ängstliche Ausdruck in ihrem Gesicht. In ihren Mundwinkeln hatten sich tiefe Linien eingegraben, die sie vorher nie gesehen hatte.
Nachdem sie sich ihr Haar zurechtgestrichen hatte, schaltete sie das Licht wieder aus. Einen Augenblick blieb sie in der Dunkelheit stehen. Nicht einen Moment länger hätte sie ihren Anblick in dem Spiegel ertragen können. Und selbst die Vorstellung, sich zu schminken, machte alles nur schlimmer, statt ihre Stimmung zu verbessern.
Die Flucht zu der Wohnung ihrer Mutter im Bostoner North End hatte ihr nur die Angst vor Charles nehmen können. Aber die quälende Unsicherheit, daß sie mit dem Gang zum Vormundschaftsrichter vielleicht die falsche Entscheidung getroffen hatte, war geblieben. Cathryn fürchtete, daß dieser Schritt ihr die Liebe von Charles nehmen könnte, wenn der ganze Alptraum erst einmal vorüber war.
So leise, wie es nur ging, öffnete sie die Badezimmertür und sah hinüber zu Michelles Bett. Michelle war vor Stunden in einen unruhigen Schlaf gesunken, und selbst jetzt noch sah Cathryn, wie das Gesicht des Kindes unter den Schmerzen immer wieder zusammenzuckte und zitterte. Seit Cathryn am Morgen in das Krankenhaus gekommen war, hatte sich Michelles Zustand von Stunde zu Stunde verschlechtert. Am Ende war sie so schwach, daß sie den Kopf und ihre Arme nur noch mit Mühe heben konnte. Die Eiterbläschen auf ihren Lippen waren zu einem einzigen Geschwür verschmolzen, dessen rissige Oberfläche so empfindlich war, daß die Lippen bei der kleinsten Bewegung schmerzten. Michelles Haar fiel inzwischen in dicken Büscheln aus, und ihr Kopf war von kahlen, blassen Stellen übersät. Am schlimmsten jedoch war ihr hohes Fieber, das ihre Wachphasen immer kürzer werden ließ.
Cathryn ging wieder zu dem Stuhl neben Michelles Bett und setzte sich. »Warum hat Charles nur nichts von sich hören lassen?« sagte sie sich leise in verzweifeltem Ton. Mehrmals hatte sie daran gedacht, ihn im Labor anzurufen. Aber jedesmal, wenn sie schon seine Nummer wählen wollte, hatte sie sich doch wieder anders entschieden.
Auch Gina war ihr keine große Hilfe gewesen. Statt ihre Tochter verständnisvoll zu unterstützen, hatte sie die Familienkrise dazu genutzt, Cathryn mehrfach darüber zu belehren, wie dumm sie gewesen war, einen dreizehn Jahre älteren Mann zu heiraten, der noch dazu drei Kinder hatte. Gina behauptete, daß sie die Probleme habe kommen sehen, weil Charles immer so getan hätte, als ob die Kinder ihm allein gehörten. Und das, obwohl Cathryn sie doch voller Güte adoptiert hatte.
Plötzlich öffnete Michelle die Augen. Vor Schmerzen verzog sie das Gesicht.
»Was ist?« fragte Cathryn und beugte sich ängstlich vor.
Michelle gab keine Antwort. Ihr Kopf fiel zur Seite, und ihr zarter Körper krümmte sich zusammen.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, lief Cathryn auf den Flur und rief nach einer Schwester. Die Oberschwester warf nur einen kurzen Blick auf Michelle, dann eilte sie zum Haustelefon und ließ Dr. Keitzman ausrufen.
Cathryn war neben dem Bett stehengeblieben und rang verzweifelt die Hände, weil sie Michelle nicht helfen konnte. Es war eine entsetzliche Qual, die geliebte Tochter so
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