Fieber
Handschuhfach des Transporters gelegt hatte. In regelmäßigen Abständen nahm Charles ihn zur Hand, um die Innenseite der Windschutzscheibe freizukratzen. Sein Atem legte sich als feuchter Film auf die Scheibe und gefror zu einer undurchsichtigen Schicht, die Charles die Sicht auf den Eingang des Weinburger-Instituts nahm. Als Charles um halb sechs auf die Uhr gesehen hatte, war es draußen bereits stockfinster gewesen. Nur der Memorial Drive war noch in das helle Licht der Straßenlampen getaucht. Viertel nach sechs hatten alle Mitarbeiter bis auf Dr. Ibanez das Institut verlassen. Erst nach einer weiteren Viertelstunde öffnete sich die Tür wieder, und Dr. Ibanez trat heraus. Er war in einen knöchellangen Pelzmantel gehüllt. Tief gegen den eisigen Wind gebeugt, eilte er zu seinem Mercedes.
Um ganz sicherzugehen, wartete Charles noch zehn Minuten, bis er den Motor des Transporters anspringen ließ. Er schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr zur Rückseite des Instituts. Dort bog er in die Abfahrt, die zur Laderampe führte. Dann fuhr er rückwärts an die Plattform heran. Er stellte den Motor ab, stieg aus und lief eine kleine Treppe hinauf. Neben der verschlossenen Schwingtür war eine Klingel. Charles drückte sie. Während er wartete, wurde er von Zweifeln über das, was er tat, befallen. Er wußte, daß die nächsten fünf Minuten alles entscheiden würden. Und zum ersten Mal in seinem Leben verließ er sich auf die Ahnungslosigkeit und Nachlässigkeit anderer.
Ein kleiner Lautsprecher neben der Klingel knackte, und ein winziges rotes Lämpchen auf der Fernsehkamera über der Schwingtür leuchtete auf.
»Ja?« fragte eine Stimme.
»Hier ist Dr. Martel!« sagte Charles und winkte in die Kamera. »Ich muß Labormaterial verladen.«
Ein paar Minuten später knirschte die Eisentür in ihren Angeln, dann schwenkte sie langsam hoch. Hinter der Tür lag eine kahle Lagerhalle. Links sah Charles eine Reihe angelieferter Pakete auf dem nackten Zementfußboden stehen. Eine Tür in der Rückwand der Halle wurde geöffnet, und Chester Willis, einer der beiden Nachtwächter, trat heraus. Er war ein Schwarzer, zweiundsiebzig Jahre alt und hatte Charles einmalerklärt, daß er zwar auch zu Hause fernsehen könnte, im Weinburger-Institut aber noch dafür bezahlt werden würde. In Wirklichkeit, das wußte Charles, ging der Alte arbeiten, damit sein Enkel Medizin studieren konnte.
Bevor Chuck an die Universität gekommen war, hatte Charles regelmäßig bis in den späten Abend gearbeitet. Dadurch war er auch mit dem Wachpersonal der Spätschicht bekannt geworden.
»Arbeiten Sie jetzt auch wieder abends?« fragte Chester Willis.
»Es muß leider sein«, sagte Charles. »Wir arbeiten mit einer Gruppe am M.I.T. zusammen. Und ich muß einen Teil meiner Sachen rüberbringen. Ich will das lieber selbst machen.«
»Sie haben uns doch nicht gestört«, sagte Chester.
Charles atmete erleichtert auf. Das Wachpersonal wußte also noch nicht, daß er entlassen worden war.
Charles nahm einen der größeren Transportkarren und ging zu seinem Labor. Beruhigt stellte er fest, daß seit dem Nachmittag niemand mehr hier unten gewesen sein konnte. Auch das verschlossene Schränkchen mit seinen Protokollbüchern und den Chemikalien war unberührt. In fieberhafter Eile begann er, die Geräte aus ihren Verankerungen zu lösen und auf den Karren zu laden. Obwohl Chester und Giovanni ihm halfen, mußte er neunmal gehen, bis er alles, was er aus dem Labor brauchte, in der Mitte der Lagerhalle zusammengetragen hatte.
Als letztes holte er das Glasfläschchen mit Michelles Antigen, das er in den Kühlschrank gestellt hatte. Vorsichtig verpackte er es in einen eisgefüllten Isolierbehälter, weil er nicht im mindesten wußte, wie stabil die Lösung war. Keinesfalls wollte er ein Risiko eingehen.
Es war bereits nach neun Uhr, als sie endlich damit beginnen konnten, die Chemikalien und die Geräte in den Transporter zu verladen.
Aber vor seiner Abfahrt blieb noch etwas zu tun. Noch einmal kehrte Charles in sein Labor zurück und holte sich ein Seziermesser und ein Stück Seife. Dann ging er in den Waschraum und rasierte sich die unansehnlichen Bartstoppeln aus dem Gesicht. Anschließend kämmte er sich das Haar, bandseinen Schlips neu und steckte sich das Hemd ordentlich in die Hose. Vor einem großen Wandspiegel sah er sich noch einmal prüfend an. Zu seiner eigenen Überraschung sah er eigentlich ziemlich normal aus. Auf dem Rückweg zur
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