Fieber
einen Moment, bevor sie die Frau ansprach.
»Es hat sich niemand gemeldet«, erklärte Cathryn.
»Das ist merkwürdig«, antwortete die Schwester. »Ich dachte, der Anruf sei dringend. Die Stimme hörte sich sehr besorgt an.«
»War es ein Mann oder eine Frau?« fragte Cathryn.
»Ein Mann«, sagte die Schwester.
Cathryn fragte sich, ob es Charles gewesen sein konnte. Vielleicht war er zu Gina gefahren. »Darf ich von dem Apparat im Aktenraum ein Ortsgespräch führen?« fragte Cathryn.
»Eigentlich erlauben wir das nicht«, sagte die Schwester. »Aber wenn Sie es kurz machen … Wählen Sie zuerst eine Neun.«
Sie eilte zurück zu dem Telefon und wählte hastig die Nummer ihrer Mutter. Als Gina sich gemeldet hatte, war Cathryn sofort beruhigt. Die Stimme ihrer Mutter klang wie immer.
»Was hast du heute gegessen?« fragte Gina.
»Nichts. Ich habe keinen Hunger«, antwortete Cathryn.
»Aber du mußt etwas essen!« kommandierte Gina, als ob das die Lösung für alle Probleme wäre.
Cathryn ging nicht weiter auf ihre Mutter ein. »Hat Charles angerufen?« fragte sie.
»Nichts hat er von sich hören lassen. Ein schöner Vater!« Gina schnalzte mißbilligend mit der Zunge.
»Und wie geht es Chuck?«
»Er ist hier. Willst du ihn sprechen?«
Cathryn überlegte, ob sie Chuck sofort erzählen sollte, daß Michelle wahrscheinlich eine Knochenmarktransplantation brauchte. Aber dann mußte sie daran denken, wie er das erste Mal darauf reagiert hatte, und sie beschloß, es ihm erst zu sagen, wenn sie bei ihm war. »Nein. Ich komme jetzt auch bald. Ich will nur noch nachschauen, ob Michelle fest schläft.«
»Ich habe Spaghetti für dich im Ofen«, sagte Gina.
Cathryn legte auf. Irgendwie war sie davon überzeugt, daß der mysteriöse Anruf von Charles gekommen war. Aber was konnte so dringend gewesen sein? Und warum war er nicht am Apparat geblieben? Als Cathryn bei der Schwester vorbeikam, bedankte sie sich noch einmal für ihre Freundlichkeit.
Eilig ging sie den Flur hinunter, vorbei an den halboffenen Türen der Krankenzimmer. Plötzlich hatte sie wieder den strengen Krankenhausgeruch in der Nase, und manchmal hörte sie ein Kind weinen.
Als sie Michelles Zimmer erreichte, stellte sie überrascht fest, daß sie die Tür sperrangelweit aufgelassen hatte. Sie machte einen Schritt in das Zimmer und hoffte, daß das Flurlicht Michelle nicht gestört hatte. Leise lehnte sie die Tür wieder an. Dann ging sie vorsichtig durch den dunklen Raum zu ihrem Stuhl. Cathryn wollte sich gerade setzen, als sie entdeckte, daß das Bett leer war. Voller Angst, daß Michelle auf den Boden gefallen sein könnte, ließ sie sich auf die Knie nieder und tastete vor dem Bett herum. Das kleine Nachtlicht spiegelte sich in dem blankgewischten Bodenbelag. Cathryn genügte ein Blick, um zu sehen, daß Michelle nicht auf dem Boden lag. In panischer Angst sprang sie auf und lief zum Badezimmer. Sie riß die Tür auf und schaltete das Licht ein. Auch hier war Michelle nicht. Cathryn lief zur Eingangstür und schaltete das Deckenlicht ein. Michelle war nicht in ihrem Zimmer!
Cathryn stürzte auf den Flur hinaus und lief zur Schwesternstation. Außer Atem hielt sie sich an dem Schaltertisch fest. »Schwester! Meine Tochter ist nicht in ihrem Zimmer! Sie ist verschwunden!«
Die Schwester sah von ihrem Schreibtisch auf, dann warf sieeinen kurzen Blick auf die Stationsliste. »Sie meinen Michelle Martel?«
»Ja! Ja! Als ich ans Telefon gerufen worden bin, hat sie noch fest geschlafen!«
»Im Bericht des Tagdienstes ist vermerkt, daß sie sehr schwach war?« sagte die Schwester in fragendem Ton.
»Das stimmt auch«, antwortete Cathryn. »Vielleicht ist sie irgendwo hingefallen und hat sich verletzt.«
Als ob sie Cathryn nicht glauben wollte, bestand die Schwester darauf, noch einmal zu Michelles Zimmer zu gehen. Sie sah sich kurz in dem Raum um und warf auch noch einen Blick in das Badezimmer. »Sie haben recht, sie ist nicht hier.«
Cathryn mußte sich beherrschen, darauf nicht mit einer pampigen Bemerkung zu antworten. Zurück in der Stationszentrale rief die Schwester als erstes die Leitstelle des Wachdienstes an und erklärte, daß ein zwölfjähriges Mädchen von der Station Anderson 6 verschwunden war. Dann schaltete sie eine Reihe kleiner Signallämpchen ein, die die Pfleger und Schwestern der Station zusammenriefen. Nachdem alle versammelt waren, berichtete sie von Michelles Verschwinden und bat das Stationspersonal, sämtliche
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