Fieber
unruhig in der kleinen Halle auf und ab ging, mußte sie immer wieder an den einen Satz von Michelle denken: ›Am besten wäre ich tot.‹ Sie hatte die verzweifelten Worte schon vergessen gehabt, aber jetzt, da Michelle auf einmal spurlos verschwunden war, kamen sie ihr immer wieder quälend in den Sinn. Cathryn wußte nicht, ob Michelle sich wirklich etwas antun konnte. Aber sie hatte so viele abscheuliche Geschichten gehört, daß sie ihre Furcht vor einem Unglück nicht mehr vertreiben konnte.
Cathryn warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann ging sie aus der Halle hinüber zur Schwesternstation. Wie konnte in einem Krankenhaus ein zwölfjähriges Mädchen verlorengehen, das so geschwächt war, daß es sich kaum auf den Beinen halten konnte?
»Gibt es etwas Neues?« fragte Cathryn die Oberschwester des Nachtdienstes. Verteilt an mehreren Tischen saßen noch sechs weitere Schwestern in der Zentrale und unterhielten sich angeregt. Die Oberschwester unterbrach ihr Gespräch mit einer Kollegin.
»Noch nicht. Der Wachdienst hat alle Treppenaufgänge kontrolliert. Ich warte noch auf den Anruf der Röntgenabteilung. Ich bin mir sicher, daß das Kind, das hier abgeholt worden ist, Martel hieß.«
»Das ist jetzt schon fast eine halbe Stunde her«, sagte Cathryn. »Ich mache mir ernste Sorgen. Können Sie nicht noch einmal in der Abteilung nachfragen?«
Ohne zu verbergen, wie sehr es ihr mißfiel, rief die Oberschwester noch einmal die Röntgenabteilung an und sagte Cathryn dann, daß der technische Assistent noch nicht zurück war, aber bei seiner Rückkehr sofort ausgerichtet bekommen würde, die Station Anderson 6 anzurufen.
Wieder einmal mußte sich Cathryn eingestehen, wie sehr sie sich von dem Krankenhauspersonal einschüchtern ließ. Sie fühlte eine unbändige Wut auf den Krankenhausbetrieb in sich, aber sie war nicht in der Lage, ihren Zorn auch zu zeigen, so berechtigt sie ihn fand. Statt dessen bedankte sie sich noch bei der Oberschwester und ging langsam zu Michelles Zimmer. Gedankenverloren schaute sie noch einmal in Michelles Badezimmer, wobei sie es vermied, in den Spiegel zu sehen. Anschließend warf sie einen Blick in den Schrank mit Michelles Kleidern. Sie hatte die Schranktür schon fast wieder geschlossen, als es sie wie ein Blitz durchfuhr. Hastig riß sie die Tür wieder auf und starrte verblüfft auf die leeren Kleiderbügel.
In wilder Aufregung lief Cathryn zurück zur Schwesternstation und versuchte verzweifelt, die Oberschwester auf sich aufmerksam zu machen. Die Schwestern der Abendschicht, die jetzt Dienstschluß hatten, und die Nachtschwestern, die gerade gekommen waren, hatten sich in der Mitte der Station zu dem heiligen Ritual der Dienstübergabe versammelt. Während dieser Zeit waren Notfälle verboten, medizinische undandere. Cathryn mußte laut rufen, bevor man sie zur Kenntnis nahm.
»Ich habe gerade entdeckt, daß die Kleider meiner Tochter verschwunden sind«, rief sie angsterfüllt.
Für einen Moment trat bedrückende Stille ein.
Dann räusperte sich die Oberschwester. »Mrs. Martel, wir sind hier in wenigen Augenblicken fertig.«
Zornig wandte sich Cathryn ab. Die Dienstroutine war offensichtlich wichtiger als ihr Notfall. Aber wenn Michelles Kleider aus dem Schrank verschwunden waren, dann war sie selbst wahrscheinlich längst nicht mehr im Krankenhaus.
Der Anruf mußte von Charles gewesen sein, und er hatte nur den einen Zweck, sie aus Michelles Zimmer zu locken. In der nächsten Sekunde hatte Cathryn wieder das Bild der verhüllten Gestalt, die eine Bahre zum Fahrstuhl schiebt, vor Augen. Der Mann hatte die richtige Größe gehabt und die richtige Figur. Es mußte Charles gewesen sein! Cathryn eilte zurück zur Schwesternstation. Jetzt war sie sich sicher, daß Michelle entführt worden war.
»Damit ich Sie richtig verstehe«, sagte der stämmige Bostoner Polizist. Cathryn hatte ein schmales Namensschild auf seiner Brust entdeckt. Er hieß William Kerney. »Sie haben also fest geschlafen, als die Schwester in das Zimmer kam, um Sie ans Telefon zu rufen.«
»Ja! Ja!« rief Cathryn ungeduldig. Das langsame Tempo der Untersuchung brachte sie zur Verzweiflung. Dabei hatte sie gehofft, daß mit Hilfe der Polizei alles schneller vorangehen würde. »Ich habe Ihnen schon zehnmal genauestens gesagt, was geschehen ist. Können Sie nicht irgend etwas unternehmen, um das Kind zu finden?«
»Erst müssen wir unseren Bericht fertigstellen«, erklärte William Kerney. In
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