Fieber
der Beuge seines linken Armes hielt er ein zerschabtes Schreibbrett, und die Finger seiner rechten Hand krampften sich um einen Bleistiftstummel, den er regelmäßig anleckte.
Eine kleine Personengruppe hatte sich in Michelles Zimmer versammelt. Es waren Cathryn, zwei Bostoner Polizisten, die Oberschwester der Abendschicht und der Verwaltungsassistent des Krankenhauses. Der Assistent war ein großer, gutaussehender Mann. Er trug einen eleganten grauen Anzug. Doch das Auffallendste an ihm war seine sonderbare Angewohnheit, nach jedem Satz ein Lächeln aufzusetzen, wobei er jedesmal die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. Sein Gesicht war dunkel gebräunt, als ob er gerade von einem Urlaub auf den Karibischen Inseln zurückgekehrt wäre.
»Wie lange haben Sie dann das Zimmer verlassen?« fragte Kerney.
»Das habe ich Ihnen auch schon gesagt«, fuhr Cathryn ihn an. »Für fünf oder zehn Minuten. Ich weiß es nicht genau.«
»Huh, huh«, seufzte Kerney in sich hinein und schrieb die Antwort auf.
Michael Grady, der zweite Polizist, überflog die Unterlagen des Vormundschaftsantrages. Als er sie durchgelesen hatte, reichte er sie dem Verwaltungsassistenten. »Es ist eine Kindesentführung. Daran gibt es keinen Zweifel.«
»Huh, huh«, ließ Kerney sich wieder hören. Seine Hand mit dem Bleistift fuhr zu einem leeren Feld im oberen Teil des Formblattes und schrieb ›Kindesentführung‹. Er hatte die Kennziffer für das Delikt nicht im Kopf und merkte sich, die Nummer nachzuschlagen, wenn sie wieder auf dem Revier waren.
Verzweifelt wandte sich Cathryn an den Verwaltungsassistenten. »Können Sie denn nichts tun? Es tut mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen.«
»Paul Mansford«, sagte der Assistent, dann verzog sich sein Gesicht zu einem kurzen Lächeln. »Aber Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Außerdem tun wir doch schon etwas. Die Polizei ist hier.«
»Aber ich fürchte, daß dem Kind inzwischen etwas passiert«, erwiderte Cathryn.
»Also, Sie haben einen Mann gesehen, der auf einer Bahre ein Kind zum Operationssaal gebracht hat?« fragte Kerney.
»Ja!« rief Cathryn.
»Aber es ist doch gar kein Kind mehr operiert worden«, warf die Oberschwester ein.
Kerney wandte sich zu ihr. »Und was war mit dem Mann mit der Röntgenanforderung? Können Sie ihn beschreiben?«
Die Oberschwester sah zur Zimmerdecke. »Mittelgroß, durchschnittliche Statur, braunes Haar …«
»Das ist nicht besonders genau«, sagte Kerney.
»Hatte er blaue Augen?« fragte Cathryn.
»Seine Augen habe ich nicht gesehen«, antwortete die Oberschwester.
»Und was hatte er an?« fragte Kerney.
»Oh, mein Gott!« stöhnte Cathryn auf. »Bitte tun Sie etwas.«
»Einen langen weißen Kittel«, antwortete die Oberschwester.
»Also schön«, sagte Kerney. »Jemand ruft hier an, lockt Mrs. Martel aus dem Zimmer des Kindes, legt eine gefälschte Röntgenanforderung vor und schiebt das Kind auf einer Bahre von der Station, als ob er es zum Operationssaal bringen wollte. Stimmt das so?«
Alle nickten. Nur Cathryn nicht, die sich die Hände vor das Gesicht schlug, um nicht endgültig die Beherrschung zu verlieren.
»Wie lange hat es dann noch gedauert, bis der Wachdienst eingeschaltet wurde?« fragte Kerney.
»Nur ein paar Minuten«, antwortete die Oberschwester.
»Deshalb glauben wir ja auch, daß die beiden noch im Krankenhaus sein müssen«, ergänzte der Verwaltungsassistent.
»Aber ihre Kleider sind verschwunden«, fuhr Cathryn dazwischen. »Sie haben das Krankenhaus längst verlassen. Deshalb müssen Sie jetzt etwas unternehmen, bevor es zu spät ist. Bitte!«
Alle sahen Cathryn mitleidig an, als ob sie ein kleines Kind wäre. Cathryn erwiderte die Blicke und warf erbittert ihre Hände in die Luft. »Herr im Himmel!«
Kerney wandte sich an den Verwaltungsassistenten. »Besteht die Möglichkeit, ein Kind hier im Krankenhaus zu verstecken?«
»Es gibt viele leere Zimmer, in denen sich die beiden eine Zeitlang verstecken könnten«, erklärte der Verwaltungsassistent. »Aber keinen Platz, an dem wir sie nicht finden würden.«
»Sehr gut«, sagte Kerney. »Angenommen, es war der Vater,der das Kind aus dem Zimmer geholt hat. Warum sollte er das tun?«
»Weil er gegen Michelles Behandlung war«, antwortete Cathryn. »Aus dem Grund ist mir ja auch die alleinige Vormundschaft übertragen worden. Damit Michelle weiterbehandelt werden konnte. Mein Mann hat in letzter Zeit sehr viel durchmachen müssen, nicht nur
Weitere Kostenlose Bücher