Fieber
geschlossenen Augen da. Sie verstand nicht, worüber Dr. Keitzman sprach, aber sie nahm an, daß Charles es tat. Aber Charles schien noch mehr Mühe zu haben als sie, mit der Situation fertig zu werden.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl kämpfte Charles, seine innere Ruhe wiederzufinden. Nie zuvor war er so schmerzvoll widerstreitenden Gefühlen ausgeliefert gewesen. Einerseits konnte er es nicht erwarten, seine Tochter zu sehen, sie in den Arm zu nehmen und zu beschützen. Andererseits fürchtete er das Wiedersehen, weil er sich endlich mit ihrer Diagnose abfinden mußte. Und darüber wußte er zuviel. Sie würde es an seinem Gesicht ablesen können.
Der Fahrstuhl hielt. Die Türen öffneten sich. Vor ihnen lag ein blaßblau gestrichener Flur, dessen Wände mit Tierbildern beklebt waren. Kinder verschiedenen Alters, in Pyjamas gekleidet, liefen herum, Schwestern und Eltern und einige Haushandwerker der Klinik standen um eine Trittleiter. Sie wechselten die Neonröhre einer Deckenleuchte aus.
Dr. Wiley führte sie den Flur hinunter, vorbei an dem Stationszentrum der Schwestern und Pfleger und dem Aktenraum. Mit einem Blick durch die Regale voller Krankenakten sah die Oberschwester Dr. Wiley vorübergehen. Rasch erhob sie sich und eilte der kleinen Gruppe hinterher. Charles sah hinunter auf den Boden und beobachtete jeden Schritt seiner Beine. Es war, als ob er einen Fremden ansah. Neben ihm ging Cathryn, sie hatte ihren Arm unter seinen geschoben.
Michelle lag in einem Einzelzimmer, das in demselben pastellblauen Ton gestrichen war wie der Flur. Auf der linkenWand neben der Tür zur Toilette war ein großes tanzendes Flußpferd. Am anderen Ende des Zimmers war ein Fenster. Rechts hing über einer Kommode ein Wandschrank, daneben stand ein Nachttisch und ein gewöhnliches Krankenbett. Über dem Kopfende des Bettes ragte eine glänzende Metallstange auf, an der ein Plastikbehälter und eine Infusionsflasche befestigt waren. Von der Flasche schlängelte sich ein Schlauch hinunter zum Bett und endete in Michelles Arm. Sie hatte gerade aus dem Fenster gesehen. Als die Tür geöffnet wurde, drehte sie sich herum.
»Hallo, Kleines«, begrüßte Dr. Wiley sie freundlich. »Schau, wen ich dir mitgebracht habe.«
Mit dem ersten Blick auf seine Tochter verschwand Charles’ Angst vor dem Wiedersehen in einer Welle sorgenvoller Liebe. Er lief zu ihr, schlang seine Arme um ihren Kopf und preßte ihr Gesicht in seines. Im nächsten Moment hatte auch Michelle ihren freien Arm um seinen Hals geschlungen.
Cathryn ging hinüber zur anderen Seite des Bettes. Sie sah in Charles’ Gesicht und spürte, wie er mit den Tränen kämpfte. Nach einigen Minuten öffnete er zögernd die Arme und senkte Michelles Kopf vorsichtig auf das Kissen. Dann strich er sanft ihr volles dunkles Haar auf dem Kissen aus, daß es wie ein Fächer um ihr blasses Gesicht lag. Michelle griff nach Cathryns Hand und klammerte sich fest an sie.
»Wie geht es dir?« fragte Charles. Er fürchtete, daß Michelle seine unsicheren Gefühle erraten könnte.
»Jetzt fühl ich mich wieder gut«, sagte Michelle, die überglücklich war, ihre Eltern zu sehen. Aber dann verdüsterte sich ihr Gesicht und sie sah Charles aufmerksam an. »Ist das wahr, Daddy?« fragte sie.
Charles’ Herz setzte für einen Schlag aus. Sie weiß es, dachte er voller Unruhe. Er sah zu Dr. Keitzman und versuchte sich zu erinnern, was er über die richtige psychologische Behandlung gehört hatte.
»Ist was wahr?« fragte Dr. Wiley vorsichtig.
»Daddy?« bettelte Michelle. »Ist das wahr, daß ich heute nacht hierbleiben muß?«
Charles blinzelte. Im ersten Moment wollte er nicht glauben, daß sie nicht nach einer Bestätigung der Diagnose fragte.
Dann, als er sich sicher war, daß sie nichts von ihrer Leukämie ahnte, lächelte er erleichtert. »Nur für ein paar Nächte«, sagte er.
»Aber ich will nicht in der Schule fehlen«, sagte Michelle.
»Mach dir wegen der Schule keine Sorgen«, antwortete er mit einem nervösen Lachen. Er sah für einen Moment zu Cathryn, die ebenso dumpf auflachte. »Es ist sehr wichtig, daß du noch für ein paar Untersuchungen hierbleibst, damit wir herausfinden können, woher dein Fieber kommt.«
»Ich will mich aber nicht mehr untersuchen lassen«, sagte Michelle. Erschreckt schaute sie ihren Vater an. Sie hatte genug Qualen erlitten.
Betroffen sah Charles, wie winzig ihr Körper in dem Krankenhausbett schien. Ihre schmalen Arme, die aus den Ärmeln des
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