Fieber
Wasserstelle, nach der Jean Paul ihn am Morgen gefragt hatte.
Charles grübelte über die Tiefe seiner Einsamkeit, als ob ihm Michelle schon genommen worden wäre. Er verstand seine Gefühle nicht, aber er ahnte, daß sie etwas mit der Suche nach Schuld zu tun hatten: Wenn er nur aufmerksamer auf Michelles Symptome geachtet hätte; wenn er sich nur mehr um seine Familie gekümmert hätte; wenn er seine Forschungen nur schneller vorangetrieben hätte. Er wünschte sich, alles andere beiseite legen und nur an seinem eigenen Projekt arbeiten zu können. Vielleicht konnte er noch rechtzeitig eine Heilmethode für Michelle finden. Aber Charles wußte, daß das unmöglich war. Außerdem konnte er sich auch nicht so offen gegen Dr. Ibanez stellen. Er konnte es sich nicht leisten, seine Arbeit zu verlieren oder sein Labor. Plötzlich begriff Charles auch, wie hinterlistig klug die Direktoren gehandelt hatten, als ihm das Canceran-Projekt übergeben worden war. Charles war unbeliebt wegen seiner unorthodoxen Methoden, aber geachtet wegen seiner großen Fähigkeiten. So konnte man Charles einerseits als glänzende Zierde benutzen, die dem Projekt die sehnlichst erwünschte Legitimität verlieh, andererseits hatte man aber auch einen passenden Sündenbock, wenn das Projekt fehlschlagen sollte. Die Entscheidung war ein Beispiel administrativer Genialität.
Aus der Entfernung klang Cathryns Stimme herüber. Sie rief nach ihm. Die eisige Luft ließ ihren Ton fast metallisch hart werden. Charles bewegte sich nicht. Einmal hätte er am liebsten geweint, im nächsten Moment fühlte er sich selbst für die kleinste körperliche Anstrengung zu schwach. Was sollte er tun, jetzt, wo Michelle krank war? Wenn die Aussichten für eine Remission schwinden würden, konnte er dann stumm zusehen, wie sie unter der Behandlung litt?
Er ging hinüber zum Fenster und kratzte die dünne Frostschicht auf, in die sein Atem sich verwandelt hatte. Durch den freien Fleck konnte er die silbrig-blaue Schneedecke sehen und die offene Wasserstelle. Die Außentemperatur mußte weit unter zehn Grad minus liegen. Charles begann sich zu fragen, warum der Teich an dieser Stelle nicht zugefroren war. Am Morgen hatte er Jean Paul erklärt, daß die Strömung das verhinderte. Aber das konnte nur stimmen, wenn die Temperatur um den Gefrierpunkt schwankte. Jetzt lag sie bestimmt siebzehn Grad darunter. Und es war noch die Frage, ob die Strömung zu dieser Jahreszeit überhaupt besonders stark war. Im Frühling, wenn im Norden der Schnee von den Bergen schmolz, verwandelte sich der Fluß in ein schäumendes Ungeheuer, und der Wasserspiegel im Teich stieg um fast einen halben Meter. Dann hatte er auch eine starke Strömung, aber nicht jetzt.
Plötzlich hatte Charles einen süßlichen Geruch in der Nase. Sicherlich war er die ganze Zeit dagewesen, aber bis zu diesem Moment hatte Charles ihn nicht wahrgenommen. Der Geruchkam ihm irgendwie vertraut vor, aber nicht in dieser Umgebung. Er hatte dieses Aroma schon einmal gerochen. Aber wo?
Froh über die Ablenkung, begann Charles in dem Spielhaus herumzuschnüffeln. Der Geruch war in beiden Räumen gleich intensiv, aber am stärksten über dem Boden. Immer wieder sog Charles Luft durch die Nase ein und versuchte, zu dem Aroma einen passenden Platz in seiner Vergangenheit zu finden. Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: das Labor für organische Chemie am College! Was er roch, war ein organisches Lösungsmittel wie Benzol, Toluol oder Xylol. Aber wie kam der Geruch hierher in Michelles Spielhaus?
Trotz des eisigen Windes ging Charles hinaus in die messerscharfe Kälte der Nacht. Mit der rechten Hand zog er den Kragen seines Sweaters eng um den Hals. Vor der Tür war der Geruch wegen des Windes nicht so stark. Aber als Charles sich im Windschatten neben dem Haus bückte, stellte er fest, daß der Geruch aus dem halbgefrorenen Schlamm neben und unter dem Spielhaus aufstieg. Charles ging zu der offenen Stelle des Teichs, schöpfte mit der Hand etwas Wasser und hielt es sich unter die Nase. Es gab keinen Zweifel, der Geruch kam aus dem Teich.
Er folgte der geschwungenen Uferlinie des Teiches zu der Stelle, an der der Zulauf hinunter zum Fluß abzweigte. Wieder bückte er sich und schöpfte etwas Wasser. Der Geruch war hier stärker. Jetzt folgte Charles dem schmalen Bach bis zu seiner Mündung in den Pawtomack River. Auch sie war nicht zugefroren. Wieder schöpfte Charles sich eine Wasserprobe. Hier war der Geruch sogar
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