Fieber
eine Predigt anhören!«
»Versuche nicht den Herrn«, sagte Gina mit tiefer Überzeugung.
»Zum Teufel mit deinem Gott!« brüllte Charles und riß sichvon Cathryn los. »Was für ein Gott ist das, der ein hilfloses zwölfjähriges Mädchen an Leukämie erkranken läßt?«
»Du kannst die Wege des Herrn nicht in Frage stellen«, sagte Gina feierlich.
»Mutter!« schrie Cathryn. »Jetzt ist es genug!«
Charles’ Gesicht war dunkelrot geworden. Er murmelte einige unverständliche Worte, bevor er sich plötzlich auf dem Absatz herumdrehte, die Hintertür aufriß und in die Nacht hinausstürmte. Die Tür schlug mit einer Endgültigkeit zu, die noch die Gläser im Wohnzimmer aneinanderklirren ließ.
Cathryn versuchte, vor den Kindern ihre Fassung zu bewahren, und räumte mit abgewandtem Gesicht den Tisch ab.
»Was für ein gotteslästerliches Benehmen!« sagte Gina ungläubig.
Sie hielt ihre Hände gegen die Brust gepreßt. »Ich fürchte, daß Charles sich dem Teufel in die Hände gegeben hat.«
»Bekommen wir jetzt die Teigröllchen?« fragte Jean Paul, als er seinen Teller zum Spülbecken trug.
Nachdem sein Vater davongelaufen war, spürte Chuck eine sonderbare Erregung in sich. Er wußte nun, daß er gegen seinen Vater aufbegehren konnte und auch gewinnen. Er sah zu Cathryn, wie sie das Geschirr vom Tisch nahm, und versuchte ihren Blick zu finden. Sie mußte gemerkt haben, wie unerschütterlich sein Auftreten gewesen war, und er hatte nicht übersehen, daß sie ihm zu Hilfe gekommen war. Er schob seinen Stuhl zurück, trug seinen Teller hinüber zum Ausguß und spülte ihn eifrig ab.
Charles war ziellos aus dem Haus gelaufen, er wollte dieser Atmosphäre entkommen, die ihn nur noch weiter reizte. Durch den verharschten Schnee lief er hinunter zum Teich. Wie es sich für Neuengland gehörte, war das Wetter total umgesprungen. Der Nordoststurm war hinaus aufs Meer gewandert, ihm gefolgt war eine arktische Front, die alles in ihrem Einflußbereich gefrieren ließ. Obwohl er gelaufen war, spürte Charles die beißende Kälte. In seinem Zorn hatte er auch noch seine Jacke im Haus vergessen. Ohne besondere Absicht wandte er sich nach links zu Michelles Spielhaus. Gott sei Dank war mit der veränderten Richtung des Windes auch der Gestank von der Recycling-Anlage nicht mehr zu riechen.
Nachdem er sich den Schnee von den Schuhen gestampft hatte, bückte sich Charles und betrat das Miniaturhaus. Der Innenraum war nur drei Meter lang, ein Rundbogen in der Mitte teilte ihn in zwei Räume: der eine, mit einer Bank an der Wand, war das Wohnzimmer, der andere, mit einem kleinen Tisch und einem Spülbecken, die Küche. Das Spielhaus hatte fließendes Wasser (nur im Sommer) und eine Steckdose. Von ihrem sechsten bis zu ihrem neunten Lebensjahr hatte Michelle hier während des Sommers an schönen Sonntagnachmittagen für Charles Tee gekocht. Die Heizplatte, die sie dazubenutzt hatte, funktionierte noch immer. Charles schaltete sie ein, um den Raum etwas anzuwärmen.
Dann setzte er sich auf die Bank, streckte die Beine aus und schlug sie übereinander, um möglichst viel Körperwärme zu sparen. Dennoch begann er nach kurzer Zeit zu frösteln. Das Puppenhaus bot nur vor dem eisigen Wind Schutz, nicht vor der Kälte.
Bald zeigte die Einsamkeit die gewünschte Wirkung, und Charles beruhigte sich wieder. Er mußte sich eingestehen, daß er Chuck grob angefaßt hatte. Charles wußte, daß er sich mit diesem unglückseligen Tag abzufinden hatte. Er wunderte sich nur, wie es dazu gekommen war, daß er diesem falschen Gefühl der Sicherheit in den letzten Jahren so vertraut hatte. Er dachte zurück an den Anfang des Tages … wie er und Cathryn einander geliebt hatten. Zwölf Stunden hatten genügt, das sorgfältig geknüpfte Netz seines Lebens aufzutrennen.
Er beugte sich vor und blickte durch das Fenster an der Stirnseite des Hauses hinauf zum Himmel. Die Wolkenfelder hatten sich aufgelöst, es war eine sternklare Nacht. Er konnte hinaussehen in die Ewigkeiten, zu den fernen Galaxien. Der Anblick war wunderschön, aber ohne Leben, und mit einemmal wurde Charles von einem Gefühl der Nichtigkeit und des Verlassenseins überwältigt. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er lehnte sich zurück, um nicht länger die erschreckende Schönheit des Winterhimmels betrachten zu müssen. Sein Blick wanderte jetzt über die schneebedeckte Winterlandschaft um den gefrorenen Teich. Direkt vor der Tür des Hauses lag die offene
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